Lieber Erwin,
zum zweiten Mal möchten wir eine Stellungnahme zu deiner NW-Kolumne GROSCHES GEDANKEN abgeben – überwiegend aus bewundernder Zustimmung, aber einen leisen Widerspruch wollen wir jetzt schon ankündigen. Das Toastbrot mit Marmelade. Natürlich. Nachdem du in letzter Zeit ungewohntermaßen konkret Bezug auf das Zeitgeschehen in der Stadt und in der Welt genommen hattest, bist du letztens wieder zu deinem bewährten Format zurückgekehrt. Die kleinen Dinge am Rande der Zeit, die von dir kunstvoll in Worte gefasst werden. Wundervolle Phänomene, zugewandte Menschen, Allerliebstes aller Art ist bei dir glaubwürdig belegt durch Nachbarn, Freunde oder Autoren. Du bist der Erfinder des kleinen Glücks.
Viele von uns fühlen spontan mit dir und könnten sogar von Ähnlichem berichten, ihnen öffnest du die Augen, denn sie, besser gesagt wir anderen haben nicht die Gabe, solcherlei Erlebniswelt gedanklich und sprachlich auf den Punkt zu bringen. Wir würden mit Nachahmungen peinlich langweilen und schweigen besser. Wir wollen dir danken, lieber Erwin.
Nur können wir schlecht lobhudeln, ohne eine kleine Spitze dagegen zu setzen. Die Ernüchterung bei der Lektüre trat exakt ein, als die Marmelade ins Spiel kam. Ausgerechnet Marmelade. Scheußlich ! 100 Punkte hätten wir für Rübenkraut* vergeben. (Die vermeintlich paderbörnsch klingende Bezeichnung „Peckeleck“ gehört nicht zu unserem Sprachgebrauch.) Doch von Anfang an: Seit unserer späten Kindheit / frühen Jugend (2. bis 4. Schuljahr) essen wir Rübenkraut zum Frühstück bzw. am Nachmittag statt einem** Stück Kuchen. Es begann, als noch Mutter zuständig war, uns das Frühstück im 6-Wochen-Wechsel zu bereiten. 6 Wochen Butterbrot mit Rübenkraut, 6 Wochen Haferflockensuppe, und wieder von vorn. Versuche mit Toastbrot wurden schnell abgebrochen, wegen des Honigs. Honig ist für uns ebenso ungenießbar wie Marmelade, egal ob aus dem Supermarkt, vom Bio-Hofladen oder von Manufaktum. Und zum Rübenkraut passt übrigens kein Toastbrot.
Letzen Sonntag waren wir zu einem kleinen Ausritt bei Neuenbeken unterwegs. An der Fortsetzung des Weges „Bukhove“ fanden wir frisch gefallene Pflaumen auf dem Asphalt. Zufällig hatten wir eine Tüte dabei, und konnten welche einsammeln, so circa ein Kilo. Etwas überreif, aber was soll’s. Zuhause haben wir sofort (wirklich leckeres) Pflaumenmus daraus gekocht. Siehst du, da war es wieder, das kleine Glück !
Zurecht erkennst du hier einen Widerspruch – Marmeladenhass und Pflaumenmusliebe – wie soll das gehen ? Oh, sprachlich ist Pflaumenmus zwar keine Marmelade, aber vom Zubereitungsprozess sehr ähnlich. Zugegeben – es ist schizophren. Was sollen wir machen ? Wir müssen damit leben. Es kann sein, dass Mutters Frühstücksplan eine dritte 6-Wochen-Phase für Toastbrot mit Pflaumenmus vorsah. Möglich. Es gibt keine Dokumente darüber.
*Wurde bereits im ersten offenen Brief an dich erwähnt, noch ohne Hintergedanken
** „eines Stückes“ wäre vielleicht ein bischen überkorrekt
Wie ernst uns das mit dem Rübenkraut ist, zeigt ein Archivfoto aus den 1980er Jahren, das wir damals der Marketing-Abteilung des Herstellers zukommen ließen mit diversen Marketing-Ideen, die allesamt niemals umgesetzt wurden.
Hier noch eine passende Anekdote: 2003 im Hotel Godewind in Kiel, eins der schrecklichsten Hotels unserer Erinnerung. Für das Frühstück hatten wir vorsorglich eine Portionspackung Rübenkraut von zuhause mitgebracht, denn Hotels kennen nur Marmelade, bestenfalls Nutella, das wir aus Umweltgründen natürlich ablehnen. Eine Familie am Nebentisch schaute hungrig zu, und Kinder, Mutter, Vater riefen in der politisch korrekten Reihenfolge, aber unisono: „Ooooh, Rübenkraut ! Wo habt ihr das denn her ?“ Gespielt altruistisch überließen wir ihnen die Portion, begnügten uns mit dem üblicherweise nach nichts schmeckenden Käse, die Wurst schon damals ignorierend, und machten arme Menschen zu einer glücklichen Familie.
So, jetzt müssen wir Schluss machen. Nächstes mal geht es um Erdnussbutter.