Lieber Erwin,
Einleitung
Thematisch zweifle ich diesmal, einen meiner offenen Briefe zu verfassen, denn die Berührungspunkte zu deinen letzen „Gedanken“ sind nur sehr dünn(e). Natürlich sind deine Gedanken wie immer genial und erhellend. Denkmalgeschützte Blick- und Hörachsen sind eine Bereicherung für die Stadt. Eine sehr temporäre Hörachse erlebt man zu Libori (falls es denn stattfindet). Wenn man sich vom „Konzert“ vor dem Rathaus zum „Konzert“ auf dem Franz-Stock-Platz begibt, kommt man an einem bestimmten Punkt der Hörachse in den Genuss zweier simultaner Konzerte, was will man mehr – höchstens ein drittes Konzert, und die Achse würde zum Stern. Doch nun endlich meinen Herzlichen Glückwunsch zum – lt. NW v. 24.11.2020 – Geburtstag! Dir und den Deinen alles Gute und Liebe.
Genau genommen kann ich heute nur auf einen Begriff Bezug nehmen, der mein fotografisches Gedächtnis anspringt: Der Stute-Werbeturm an der Borchener Straße. So kommt mein entsprechendes Foto in der Ausstellung Stilles Licht ins Spiel, das um 1991/93 entstanden war. Damals nahm man das Denkmal vor allem von „unten“, aus der Stadt kommend, wahr – heute nur noch kurz aus der Borchener-/A33-Perspektive.
Zwischendurch eine gute Nachricht für dich: Ja, ich habe deine neues Buch Padermann gekauft. Obwohl, gekauft ist nicht ganz korrekt, ich konnte einen zugespielten Gutschein verwandeln. Die Schenk-Gemeinschaft war zu bequem oder unwissend, den weiten, weiten Weg bis zur Buchhandlung meines Vertrauens zurückzulegen, welche derzeit Bonifatius am Kamp ist, in der ja auch irgendwie gefühlt oder in echt dein geliebtes Linnemann weiterlebt. Tja, wir mussten Thalia betreten, was aber nicht so schlimm war. Hauptsache der Kauf fand nicht in diesem unsäglichen Internet statt, korrekt so? Anyway. Habe ich es schon gelesen – oder liegt es ungünstig im Stapel auf dem Nachtkonsölchen ? In der Frage liegt die Antwort : Natürlich nein, denn ich besitze kein Nachtkonsölchen.
Bildvergleich Stute Werbe-Pylon ca. 1993 / 2019 (Bitte die Magenta-Trennlinie hin und her schieben …)
Zweitens
Wer wie du, Hölderlin zitieren kann, ist auf jeden Fall tief in der Lyrik geerdet. Vor ein paar Wochen war ich bei Klingenthal auf hauseigene Lyrik gestoßen, möglicherweise sogar Philosophie. Zwischen der Ware standen kleine dekorierte Botschaften in vermeintlich englischer Sprache. Ich lese viel Englisch, habe hier aber nichts verstanden, jedenfalls nicht sinngemäß. Vermutlich war auch nicht ich der Adressat, sondern die Damen, die sich für Fashion vom Typ DOB interessieren (im Fachjargon DOB = Damenoberbekleidung). Oder die Oppas, welche man in den Klingenthal-Randzonen auf Sesseln geparkt vorfindet, wo sie zusammengesunken, schnarchend oder starren Blicks sich langweilen, bis die zugehörigen Damen bei der DOB fündig oder unfündig geworden sind. Kommen wir anhand von zwei Fotobeispielen zur Klingenthal-Lyrik:
Traumhaft, ziemlich poetisch und in sich schlüssig. Danke, Klingenthal, danke Google translate. Mit diesem Erkenntnisgewinn fällt uns der Klamottenkauf schon viel leichter.
Drittens
Nun brennt mir noch ein drittes Thema unter den Nägeln, jedoch rücke ich nochmals ein Stück von deinen „Gedanken“ fort, lieber Erwin. Aber wer, außer dir, sollte mir folgen können ? Es geht um Willy Brandt (*1913 – †1992). Lange bevor man den Flughafen BER nach ihm benannt hat, war Brandt in vielen Städten als Namensgeber in Mode gekommen. Die erste Bewusstwerdung dieses Phänomens erlebten wir reichlich verspätet Ende 2019 beim Umsteigen in die Straßenbahn am Hauptbahnhof Oberhausen. Nein, das Centro war nicht unser Ziel. Unser Blick fiel auf das Schild „Willy Brandt-Platz“. Der Friedensnobelpreisträger tat uns leid. Ausgerechnet mit dem Areal am Hauptbahnhof, in der Regel Lebensraum für Dealer, Clan-Angehörige, Kleinkriminelle, kaputte Fahrräder und Pizzaboxen muss er Vorlieb nehmen. Kopfschüttel, oder besser: Stop, zurück! Das klingt ja, als spräche Friedrich Merz. Sorry allerseits. Natürlich leisten die erwähnten gesellschaftlichen Gruppierungen wertvolle Beiträge zur Alltagskultur. Wir haben recherchiert – es bleibt sehr einseitig. Etliche Willy Brandt-Plätze existieren. Immer Plätze, nie Straßen. Immer in Bahnhofsnähe wird dem SPD-Heiligen diese stereotype Würdigung teil. So ticken halt die Genossen mit schwarzgrauen Hemden und grau-roten Krawatten. Brandts diverse Witwen hätten rechtzeitig einschreiten müssen. Nicht überall ist man so phantasielos. Die Bonner Haupt-Verkehrsachse (B9), entlang der großen Museen und dem Telekom-Headquarters, lautet abschnittsweise Willy Brandt-Allee! Chapeau – da muss man erstmal drauf kommen. Düsseldorf, im langjährigen Mittel vorwiegend SPD-regiert, ignoriert ihn komplett. Dort findet man statt dessen das schöne Joseph Beuys-Ufer. Uns aber interessiert Paderborn. Sollte der Heimatverein als straßennamengebende Instanz auf die Idee kommen, den schnöderweise bis heute schlichten Rathausplatz in Willi Lüke-Platz umzubennen, was ich in der Luft bzw. Schublade liegend befürchte, möchte ich schon jetzt Einspruch erheben lassen, um – bitte nicht erschrecken – die in sehr ferner Zukunft anstehende Umbenennung in Erwin Grosche-Platz prophylaktisch freizuhalten. Für den Ex-Kanzler bleibt gemäß den geltenden Spielregeln immer noch der ca. 2 m breite Grünstreifen zwischen den beiden Fahrbahnen vor dem voraussichtlich niemals realisierten neuen Hauptbahnhof.