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Oberhausen – Foto von Rudolf Holtappel, gesehen 2021 in der Ludwigsgalerie Schloss Oberhausen.

Alles schon vorbei

Das Ruhrgebiet habe ich spät entdeckt. Damals, aus der ostwestfälischen Distanz, fand ich es irgendwie nicht schlecht, kam der Gegend aber nicht näher. Ich hob mir die Begeisterung für später auf. Berührungen bestanden allenfalls aus Durchfahrten – A44, Westfalendamm, Westfalenhalle mit Fernsehturm, Rheinlanddamm, weiter die A40 über Bochum, Essen, Mülheim, Duisburg nach Holland. Zuerst war es die A2, gelegentlich die A42.

In der einschlägigen Heimatliteratur wurde einem der „besondere Menschenschlag“ ans Herz gelegt, Menschen, welche den harten Arbeitsbedingungen ausgesetzt waren. Selbstverständlich prägten Kohle und Stahl die Städte und die Landschaft. Taubenzucht, Fußball, Currywurst, Männer in weißen Unterhemden mit einer Flasche Bier, ehrlich, fleißig, geradlinig, und ähnliche Folklore wurden als typisch erklärt. Ich konnte all das nicht glauben.

Trotz des vielzitierten Strukturwandels hatte sich das  als vermeintlich dreckig dargestellte Image lange gehalten. Es dauerte, bis die letzte Zeche geschlossen war und die Hochöfen verschwanden. Die sichtbaren industriellen Hinterlassenschaften lassen noch immer eine Vorstellung der früheren Prägung erahnen.

Immerhin gehörte unser kleines OWL zu NRW, dem großen Ganzen. Die dicht bewohnte und vor Arbeit triefende Kulisse des „Ruhrpotts“ – welch ein schlimmer Begriff – verstand ich als Garant für Wohlstand, Fortschritt und Überlegenheit. Paderborn konnte natürlich nicht mithalten. Dass die Oma der Nachbarfamilie Wieneke aus Oberhausen stammte, löste bei mir eine unfassbare Ehrfurcht aus. 2018 besuchten wir im Ruhrmuseum Essen eine Ausstellung von Ruhrgebietsfotos aus den 1920er bis 40er Jahren des Fotografen Albert Renger-Patzsch. Ähnliche Motive stammten 2021 in der Ludwigsgalerie Schloss Oberhausen von Rudolf Holtappel, wenn auch nicht ganz in der künstlerischen Qualität wie bei Renger-Patzsch. Die Fotos zeigten Landschaften und Situationen von unglaublicher Andersartigkeit, jedenfalls aus meiner Perspektive. Diese Welt hatte ich selbst nie erlebt. Die typische Zeit, die harten und doch goldenen Jahre waren längst vorbei. In Museen und in Form von denkmalgerecht zur Route der Industriekultur aufbereiteten Fördertürmen, Hochöfen und Hallen kann man die Ära noch besichtigen und die einzigartige Atmosphäre ahnen.

Annäherung

Im Jahr 2000 unternahm ich für ein Fotoprojekt eine Tagesreise durch das Gebiet – ohne Ausbeute, denn ich war ohne jede Vorbereitung, mit der falschen Ausrüstung und dem falschen Verkehrsmittel unterwegs – eine sperrige, langsame Hasselblad und ein Auto, mit dem man an den entscheidenden Stellen nicht spontan anhalten konnte. Ziemlich schnell verlor ich die Orientierung und ließ mich treiben, ab und zu von Ortsschildern leiten und geriet von Herne nach Remscheid, das gar nicht zum Ruhrgebiet gehört.

Seit 2016 gab es mehrere gezielte Reisen, mit dem Auto und mit dem Fahrrad. Komischerweise zählt für mich die unmittelbare Umgebung der namensgebenden Ruhr irgendwie nicht dazu. Und um die Gebiete südlich der A40 habe ich mich zugegeben leider gar nicht gekümmert, mal abgesehen von einer Ruhr-Radtour von Schwerte bis Duisburg mit Übernachtung in Bochum-Dahlhausen. Seither lag vor allem das nördliche Ruhrgebiet zwischen A40 und A2 im Fokus. Die Gegend ist durchschnitten von Autobahnen, Bahnlinien und den Kanälen Datteln-Hamm sowie Rhein-Herne inklusiv Emscher. Zählt Recklinghausen schon zum Münsterland ? Auf dem Dach des Gasometers Oberhausen kann ich mich nicht sattsehen am Panorama. Ähnliche Erlebnisse werden auf den Halden beschert, von denen ich bisher nur zwei erklommen habe: Haniel und Tetraeder bei Bottrop. An Rheinelbe und Hoheward sind wir nur am Fuß entlang geradelt. Auf ehemaligen Kohle- und Erz-Bahntrassen. Solchen Wege, die überwiegend auf hohen Dämmen durchs Grüne führen, bieten manchmal überraschene Einblicke in „normal“ anmutende Stadtrand- und Vorstadt-Gebiete. Es ist unglaublich, wie sich immer andere Ortschaften und Stadtviertel aneinander reihen bzw. durch Wälder, Grün- und Stadtbrachen getrennt sind. Bahngelände, lost Places und Siedlungen wechseln sich ab. Bin ich noch in Herne, oder schon in Herten ? Gehört Wattenscheid zu Bochum, oder ist das was eigenes ? Die Namen zweier Stadtteile von Herne sind ziemlich bekannt: Wanne Eickel. Zusammen waren sie mal eine Großstadt. Die größere Einheit Herne hingegen klingt eher unbedeutend.

Je unspektakulärer das Bild von Stadt und Land, desto besser gefällt es mir. Wenige Zutaten reichen: Ein Lidl, eine Tankstelle, ein paar Straßenbahnschienen, und ich bin glücklich und dankbar. Staunend stehe ich vor Kühltürmen, Strommasten, Brücken, Rohrleitungen, braunen Rinnsalen und Fabriken mit eingeschlagenen Fensterscheiben. Die Dichte der Städte und Nachbarschaften bringt es mit sich, dass der Erlebnisstrom nicht abreißt, soweit man auch fährt. Immer wieder ähnlich, und doch immer wieder anders. Übereinstimmungsmuster, die man kaum erklären kann.

2009 waren wir am Datteln-Hamm-Kanal bis Dorsten unterwegs und konnten von Kraftwerk zu Kraftwerk blicken. Die ganze Lippe-Landschaft war ein Energie-Hotspot. 2022 wiederholten wir die Tour, diesmal nur bis Lünen. Die Kraftwerke stehen noch, aber still. Beim Fotografieren kommt Bernd-und-Hilla-Becher-Wehmut auf – ich frage mal, wie lange diese Bauwerke noch existieren, bis sie abgerissen werden. Und was kommt dann – die große Re-Naturierung ? In Duisburg, so heißt es, endet die „neue Seidenstraße“. Aber wo verläuft sie ? Darüber findet man nichts. Wir unterquerten Bahnunterführungen, über die Güterzüge mit Containern ratterten. In Gelsenkirchen übernachteten wir in einem Hotel an einer reinen Güter-Bahnstrecke. War das die Seidenstraße ?

Ansichten

Die folgende Bildergalerie zeigt Impressionen, die auf Radtouren von 2019 bis 2022 entstanden. Gibt es jemanden, der das Ruhrgebiet so gut und genau kennt, dass er/sie die einzelnen Szenen identifiziert, ohne erst enthaltene Schilder dechiffrieren zu müssen ? Dann fällt sicher auch auf, welches der Foto gar nicht im Ruhrgebiet entstand, sondern in Nordenham an der Unterweser. Dort sieht es ähnlich aus.