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Unterwegs

2001 · Pferdeurlaub bei den De-Redons auf Péguignon

By 20. Oktober 2001No Comments

Urlaub in der französischen Knüste unter Pferden

Prolog

Auf den Tag genau wie im Vorjahr geht es ab in den Frankreich-Urlaub. Es war auch der Jahrestag, wo Ise starb. Wie immer waren die Tage zuvor wegen der noch zu Ende zu bringenden Projekte so hektisch, dass weder Vorfreude noch Urlaubsstimmung aufkamen; lediglich etwas vorweggenommenes Heimweh machte sich um so breiter, je näher der Abreisetag kam. Und das hatte seinen Grund: Wie allgemein bekannt, ging dieser Urlaub erstmals nicht an die Küste, sondern in die Knüste: 14 Tage Knüste. Am Meer hatte sich nichts ergeben, was wir noch nicht kannten und gleichzeitig zum Buchungszeitpunkt Ende Januar noch bezahlbar gewesen wäre. Daher freundeten wir uns mit dem Gedanken an, auf den etwas abseitigen Nebenschauplätzen der idyllischen und kultivierten Loire-Region auf dem Fahrrad Frankreich pur zu genießen. In die nähere Wahl kamen zum Schluss ein ehemaliges Schleusenwärterhaus am Cher (von denen 5 Stück an unterschiedlichen Abschnitten angeboten wurden) und ein kleines Haus am Teich, etwa 6 km südlich vom Cher, mitten in der Prärie. Brigitte fürchtete bei der Schleusen-Variante hohen Durchgangsverkehr von Radlern und Bootfahrern bei gleichzeitiger Nichtexistenz eines geschlossenen Gartens zum Beispiel. Daher gewann das „Maison des Etangs“ den Wettbewerb. Wir ließen anrufen und wir bestätigten das Gesagte per eMail mit prompter Antwort seitens derer „de Redon“. Soviel kommunikative High-Tech-Aufgeschlossenheit hatten wir in Frankreich nicht vermutet. Erst als der Vertrag kam, begann das Aufwachen: Eine bisher übersehene Vokabel machte uns stutzig: „Domaine Equestre, Pension Cheveaux!“ Wir würden auf einen ominösen Pferdehof geraten. Überall Zossen, Pferdegestank, Gewieher, Getrappel, grüne fette Fliegen, Misthaufen, ein ständiges hin und her mit Pferdeanhängern, verlebte Frauen mit prallen Ärschen in Reiterhosen. Wieder stornieren? Und was dann? Deshalb schwelgten wir vor der Abreise nur noch in verklärten Erinnerungen, in denen die Nähe oder die Gegenwart des Meeres eine dominierende Rolle spielte. Verregnete Tage im Haus, tiefe Wolken und Schauer über der Bucht, flirrende Mittagshitze während der Ebbe, die sich täglich verschiebende Flut bei wechselnden Koeffizienten, Fischgeruch und Möwenpiepen, das Tuckern der Kutter, Strandrestaurants, kleine abendliche Gänge und Fototouren, Fähranleger und Austernhütten, Brücken und grüne Lampen, Teller mit Muscheln, Spiegel-Lesen am Strand, Parkplatz-Nöte und Sonnenbrand-Gefahr. All das würde ohne uns stattfinden. So kam der Tag der Abreise heran und wehmütig steiften wir durch Westerstraße und um den Dom. Unmittelbar vor der Abfahrt fand ein letzter Marktbesuch statt, gerne wären wir geblieben.

Samstag, 14. Juli 2001
Das Ritual verlangt es, die Abfahrt in den Urlaub stets mit dem Einwurf einer Steuererklärung beim Finanzamt und dem Kauf einer PAGE bei der Bahnhofsbuchhandlung Halemeier zu beginnen, diesmal schon um 8.15 Uhr. Ursprünglich war vorgesehen, bereits am 13. Juli loszufahren und eine völlig andere Strecke als sonst zu wählen, nämlich über Kaiserslautern, Saarbrücken, Nancy und Troyes. Eine Übernachtung war geplant in jener Auberge St. Jacque in Houdelaincourt, wo wir 1983 die besondere Magie des Schnittpunktes einer Bahnlinie, eines Kanals, einer alten Autowerkstatt, eines Kornspeichers und eines Hotels erleben durften und wo es noch selbstverständlich war, den Salat mit einer ordentlichen Portion Rinderhirn abzurunden. Heute undenkbar. In diesem Zusammenhang weisen wir auf den Urlaubsbericht 07/2000 hin, wo wir bereits bedauern mussten, dass im sog. Kuttelhotel bei Laval die Kutteln von der Speisekarte gestrichen wurden. Leider hatten wir nur diesen einzigen Reisetag und wählten als Strecke die wie immer. In Essen (es ging also nicht über Wuppertal) verpassten wir die Abfahrt nach Düsseldorf (es ging also nicht über Köln) und brauchten bis Mülheim für den Entschluss, umzudrehen. Hinter Düsseldorf führte die Strecke nach Aachen lt. Beschilderung unfairerweise fast bis Roermond. So kamen wir erst mittags an der Grenze an: Durch Abkürzungen 2 Stunden länger gebraucht. (Bisherige Bestzeit vor Jahren: Paderborn – Aachen 2.15 Std.) Unsere Beschreibung des Abschnitts Belgien aus dem Tagebuch 2000 traf in allen Punkten auch dieses Jahr zu, sogar das Wetter verhielt sich konform. Bei 13 Grad Kälte tankten wir in Belgien, um die Überbestände an belgischen Francs abzubauen. Eine volle Stunde standen wir an der Kasse an, da zwei Busse englischer Teenies, individuell bekleidet mit pinkfarbenen knappen Tops, sich mit Süssem eingedeckt hatten und vor uns mit Bezahlen dran waren. Zum Glück regnete es von Aachen bis Compiegne. Die Paris-Umgehung via Val de Bievre, einst eine Großtat des Wagemuts, reizte uns nicht mehr und wir gestanden uns ein, dass diese Strecke schon immer latente Depressionen hervor gerufen hatte. Streng nach Beschilderung, links herum über die A86. Dauerte insgesamt erheblich länger. Paris scheint doch nicht so klein zu sein, wie wir immer dachten. Kurz vor Orleans machten wir Rast auf einer durchschnittlichen Raststätte, mit viel billigem Volk, offen Pissenden und reichlich Müll überall. Als wir immer noch dachten „Wann kommt endlich Orleans“, sahen wir die Silhouette der Stadt im Rückspiegel. Auch gut. Die Beklommenheit wuchs. Würden wir in der Lage sein, Madame und Monsieur guten Tag zu sagen oder vor lauter Blockade verstummen? Auf Fragen aller Art mit „Ca va“ antworten? Zu fragen „Wo kommt die volle Mülltüte hin?“? Unser Geschenk zu überreichen? Vermutlich nicht. Nach ein bischen suchen fanden wir die Domaine Peguignon und Madame Joelle begrüßte uns sehr freundlich, namentlich auch Brigitte. Monsieur dagegen war in Hektik, ein Pferd war ausgerissen. Erste Überraschung: Das Gelände war sehr gebirgig, da, wo wir Höhenunterschiede von max. 3 m erwartet hätten, waren es bestimmt 25 m. Der alte Hofhund, ein grauer Großschnauzer „de Redon“ wies uns den Weg und hoppelte voran, bis zum Maison des Etangs, ca. 200 m. Madame fuhr mit ihrem Auto, einem Audi A3 mit 34er Nummernschild. Das verwunderte, denn wir hatten erwartet, dass sie mindestens hoch zu Ross mit herrischer Mine voransprengt (Auch eine sechs-spännige Kutsche hätte uns nicht überrascht, wäre auf dem Gelände aber schwierig gewesen). Auf dem uns bekannten Luftbild hatten wir uns zudem getäuscht: Unser Haus war darauf gar nicht zu sehen gewesen. Tatsächlich liegt es ein Stück weiter um die Ecke, zwischen einer Felswand und dem Teich. Nach dem allgemeinen Einweisen und Zeigen ging es besinnungslos weiter, da trotz des Nationalfeiertages das Super U offen hatte, jetzt und weitere 45 Minuten. Wir interpretierten die Wegbeschreibung falsch, bogen links rum ab und fuhren 8 km in die falsche Richtung, bis wir – statt beim Supermarkt am Kreisverkehr – in einem tiefen dunklen Staatsforst landeten. Umdrehen und doch noch geschafft.

An dieser Stelle folgt traditionsgemäß das Meckern über das Haus. Gut, es gibt ein paar Details, die uns nicht gefallen, aber so lange das Leben sich überwiegend draußen abspielt, ist das nicht so wichtig. Dass das Badezimmer, speziell die Duschmöglichkeit, schlimm sein würde, war uns anhand des Fotos vorher klar. Andererseits ist das Klo nicht wie sonst in einem kleinen dunklen ungelüfteten Loch unter der Treppe mit gefährlich schwebendem Heisswasser-Boiler untergebracht, sondern im einigermaßen hellen und lüftbaren Bad mit einem Tischchen daneben, auf dem reichlich Klolektüre Platz findet. Das gibt Pluspunkte. Dickes Lob auch für das Kreuz, was im Salon über dem Durchgang zum Küchenbereich hängt. Ein frommes Haus. Zurück zum Klo. Zwar handelt es sich um einen Tiefspüler, aber um einen Wahren! Denn die Kacke plumpst dermaßen tief ins Wasser, das der Spritzer um so höher planscht. Ende des Meckerns. Zum Abendbrot verspeisten wir eine komplette Tranche Paté  de Campagne Superieur, die eigentlich die ganzen zwei Wochen halten sollte. Der Küchentisch hat eine Oberfläche aus hübschem byzantinischen Mosaik, die filigranen Stühle sind aus der gleichen Optik mit Mosaik-Intarsien gearbeitet.

Aus nahe liegenden Gründen musste der jetzt an sich fällige Strandspaziergang/ Küstenbesuch flachfallen. Wir fingen an, die Fahrräder zusammenzusetzen und hatten uns nach wenigen Minuten bis unter die Arme mit schwarzem Kettenfett zugeschmiert. Irgendwie ging der hintere Umwerfer immer nur verkantet rein und es sah so aus, als müssten wir ein neues Gewinde schneiden lassen. Das Thema Fahrrad wurde auf morgen vertagt. Wir ließen die Natur auf uns einwirken, als da wären: Eine gigantische Ruhe die sich zur Stille auswuchs und selbst Opa Konrads höchste Ansprüche in diesem Punkt zufrieden stellen würde. Man hört nichts außer ein paar Vogelstimmen und dem gelegentlichen Platschen eines nach Luft schnappenden Fisches. Wir sind gespannt, ob der Zustand erreicht wird, der in dem im südlichen Kreis Höxter spielenden Roman „Vom Wasser“ von John von Düffel beschrieben wird: Bei bestimmten Wetterkonstellationen springen die Fische dermaßen, dass sie sich quasi mehr in der Luft als im Wasser aufhalten. Sie wollen damit zeigen, dass man sie fangen soll. Niemals wiehert ein Pferd, wie albern waren unsere Befürchtungen. Nur bei stärkerer Konzentration der Ohren nimmt man ein gedämpftes Gluckern wahr, das von dem Überlauf des oberen in den unteren Teich herrührt. Über eine kleine Stufe werden ca. 1,20 Gefälle genommen. Nach eigenen Messungen beträgt die Durchflussmenge ca. 10 – 20 Liter pro Sekunde. Messmethode: Einen 10-l Eimer unter die Ausflussstufe halten und einundzwanzig sagen. Ruckzuck war der Eimer voll, obwohl wegen der Breite der Stufe auch locker 2 – 3 Eimer in der gleichen Zeit gefüllt werden gehabt würden können, oder so. Zu den halben und vollen Stunden schlägt die Glocke der Schlosskirche von Chateauvieux. Man sieht die Wolken ziehen, Sonnenstrahlen beleuchten den Baumsaum hinter den Teichen, der Schatten erzeugt ein schwarzes Grün. Unser Leben spielt sich vor dem Haus ab, wo ein paar billige blaue Plastikstühle, ein ebensolcher Tisch mit einer hohlkehlig gerundeten Holzlatten-Parkbank im Ensemble aufgestellt sind. Blickt man nach links, sieht man in 1 km Entfernung auf einem Hügel das Schloss von Chateauvieux (nicht das von Peguignon). Leider nicht sichtbar: Die Schlosskirche direkt rechts daneben. Dieses Bild ist je nach Tageszeit und Wolkenbildung mal freundlich sonnig oder bedrohlich düster. Rechts rum (wir sind thematisch wieder bei unserem Maison des Etangs) geht der Weg am oberen Teich weiter, aber da waren wir, bis zum Zeitpunkt dieses Niederschreibens jedenfalls, noch nicht. Wir beobachteten nur, wie Monsieur dort mit dem Audi vorbei jagte, um die seit einer Stunde überfälligen 9-jährigen Töchter wieder einzusammeln. Er hielt kurz und fragte, ob wir sie gesehen hätten, was wir verneinen mussten. Auch er also schien kein wahrer Pferdefreund zu sein, denn wann liegt der Einsatz eines schnellen Pferdes näher, als wenn in unwegsamem Gelände Töchter in Gefahr gesucht werden? Und wieso hat das Auto eine 34er Nummer? Sind die Redons Zugereiste? Stand ihnen im Herault (Dpt. 34) das Wasser bis zum Hals? Sind sie Kriminelle? Hier geht es womöglich drunter und drüber.

Links hinter dem Haus steigt eine Steilwand auf, auf deren oberen Niveau sich der Rest bzw. das eigentliche Peguignon befindet. Wie man in der ganzen Region sieht, sind in die Steilwände aus dem schönen lockeren weißgelben Sandstein kleine künstliche Höhlen geschlagen, mal als Geräteschuppen genutzt, mal verfallen. In einer solchen winzigen Höhle parken wir die Fahrräder. Die Höhlen heißen Troglodytes, wir nenne sie kurz Troggs, so wie Ende der 1960er Jahre eine bescheuerte englische Rockband hieß, man erinnert sich noch an den einzigen Hit mit folgender Melodie: „Pa, pa-pa pa-pa pa, pa-pa pa-pa pa…“

Da wir ziemlich groggy waren, gingen wir um halb zehn im Bett. Das Schlafzimmer hat Blick auf den Teich (Brigitte) und Blick auf das Schloss (Udo). Das Bett mit der Feuchtigkeit spendenden Schaumgummimatratze ist nicht zu kuhlig, nur ein wenig schmal. Nicht mal lesen lag noch drin.

Sonntag, 15. Juli 2001
Wetter bewölkt mit Sonne. Wir fuhren vormittags nach St. Aignan und parkten auf dem am Rand der City gelegenen Marktplatz. Alles war nett. Es gab Kneipen, manche Läden waren offen, in der Kirche von 1490 lief die hl. Messe. Wir nahmen uns zunächst das größte Gebäude der Stadt vor, eine dominante Mischung aus Burg und Schloss. Es lag auf einem Hang hoch über dem Cher. Von oben hatte man einen tollen Ausblick über den an dieser Stelle zweigeteilten Cher, auf dessen Mittelinsel ein paar alte, früher vermutlich wasserwirtschaftlich bedeutsame Gebäude angelegt waren. Nach einigem Hin und Her und Suchen landeten wir auf der Außen-Sitzgelegenheit einer Bar neben der Kirche. Biermarke Kanterbräu.  Der Patron war nicht unmürrisch, jedoch reichte seine Laune gerade noch, um die gewünschten Waren (ein Bier und ein Glas Rose) auch tatsächlich zu servieren. Mit soviel Entgegenkommen uns Fremden gegenüber hatten wir nicht wirklich gerechnet. Im Ort zirkulierten ein paar Touristen und ein Trupp Scouts, wahrscheinlich Trend-Scouts. Sie hatten Scout-Uniformen inklusive Hüte an, die Frauen sogar lange, schwere, ausgestellte, dunkelblaue Filzröcke, wie sie von Frauen dieses Schlages gern getragen werden – das glatte Gegenteil der englischen Teenies auf der belgisches Raststätte. Als plötzlich die Mittagszeit heranbrach, stellte der Patron an den Nachbartischen die Stühle hoch und wir sahen uns genötigt, hastig auszutrinken und Andeutungen in Richtung „Addition“ zu machen. Bei der Nennung des recht anständigen Preises „26“ wobei er vermutlich Francs und nicht Euro meinte, sprach er zum ersten Mal.

Der Nachmittag verging mit Mittagsschlaf, dösen in der Sonne, nach dem Boot schauen, genauer gesagt das Boot hochheben, um das darin angesammelte Regenwasser auszukippen, wobei eine unter dem Boot lauernde heimtückische schwarze Schlange das Weite suchte (Riesenschreck). Wie das Boot so unbewegt da liegt, zu jeder Tageszeit, ist es das einzige Stück Zivilisation im Blickfeld und erinnert an Blanchelande, 1995. Wir haben noch keine Stelle gefunden, an der das Boot auf leichte Weise zu Wasser gelassen werden könnte und so besteht seine einzige Aufgabe darin, die Zeit als stehen geblieben empfinden zu lassen. Weiter ging es mit Lesen, Rumkramen, der Fortsetzung des Versuchs, die Fahrräder flott zu kriegen, bis es 18.00 Uhr war und wir den Tag nicht verstreichen lassen wollten, ohne wenigstens proforma eine kleine Radtour gemacht zu haben, und zwar zum Chateau von Chateauvieux. Dieses wird heutzutage als Nachbehandlungs-Sanatorium für Krankheiten, nach denen wir nicht fragen wollen, genutzt und das Gelände war zum Glück verboten für Unbefugte. Brigitte wollte streckentechnisch den Ball flach spielen und so fuhren wir nur quer durch die Weinberge einen kleinen Bogen Richtung St. Aignan. Es war aber insgesamt schon so spät, dass eine an sich erwünschte Einkehr einvernehmlich fallen gelassen wurde. Hintenrum ging es wieder nach Hause.

Auch beim Zoo von Beauval war Feierabend, die Massen kamen heraus und strömten zu ihren Autos. In der Nacht gab es einen erzählerisch verwertbaren Traum:
In Schloss Neuhaus sollte im Rahmen des Schloss-Sommers ein Folkrock-Festival statt finden. Es wurde ein überregionaler größerer Andrang erwartet, ähnlich als spielten auf dem Gerry-Weber-Sportplatz in Halle Jennifer Lopez gemeinsam mit Michael Jackson. Die Bevölkerung war aufgerufen, Gästezimmer zur Verfügung zu stellen. Dieser Verpflichtung wollte sich auch Oma Magret nicht entziehen, zumal gutes Geld lockte. Sie hatte zwei Zimmer anzubieten: Ihr Wohnzimmer, wo zwei Personen auf dem Sofa nächtigen konnten und Rolfs altes Zimmer, in dem ebenfalls zwei Personen bequem Platz fänden. Um die Vermarktung sollte sich Rolf kümmern. Leider war er erkrankt, er hatte sich eine Erkältung geholt. Daher rief er uns an und bat uns, die beiden komfortablen Gästezimmer auf der HomePage des Diözesanmuseums anzubieten. Wir hatten keine Bedenken und fingen sogleich an, in Microsoft FrontPage die entsprechende Startseite des Museums umzugestalten. Beim Formatieren der Tabelle mit Hilfe von <tr>- und <td>-Tags kamen wir ins Schleudern, wachten auf und fragten uns bei Tageslicht, ob Oma Magret sowas wirklich nötig hat.

Montag, 16. Juli 2001
Strahlend blauer Himmel, vor dem Frühstück draußen musste man allerdings den taufrischen Tisch abwischen. Man hat auf dem Sitzplatz vor dem Haus Sonne von 9.00 bis 19.30 – wenn sie denn scheint. Wir fuhren nach St. Aignan, parkten wieder auf dem Markt, drehten ein Runde durch den Ort und stellten fest: tote Hose. Die übermäßige Geschäftigkeit wurde durch Geschlossenheit am Montag kompensiert. In einer Bäckerei kauften wir Croissant aux Amandes und Chausson aux Pommes. Am Cher wurde das Gebäck verfrühstückt. In der Mittagsglut – wann sonst – kauften wir ein beim Super U. Nicht mehr ganz so kaputt, mit entsprechend kürzerem Mittagsschlaf, konnte das Nachmittagsprogramm bereits um 16.00 Uhr starten. Mit dem Rad solllte es nach Selles sur Cher gehen, dem überregionalen Epizentrum für Ziegenkäse schlechthin. Wir wechselten auf die andere Cher-Seite (man merkt, der Cher hat ganz klar die Rolle des vermissten Meeres bekommen) und stellten nach kurzer Zeit fest, dass die Landkarte nicht stimmte und wir ohne Radweg auf der vom Schwerlastverkehr bevorzugten N76 fast zermalmt wurden. Mit letzter Kraft erreichten wir eine Nebenstraße am stillgelegten Canal du Berry entlang, aber nur kurz. Außerdem ist es ein Jammer, den Kanal in diesem stillgelegten Zustand erleben zu müssen. Brutale Brücken, die sich nicht mehr hochklappen lassen, Schleusen, durch die niemand mehr gehoben und gesenkt wird. Schnell kamen Weinberge und Steigungen. Bis Selles zog es sich hin. Von Selles hatten wir uns einiges versprochen. Ein kleines Städtchen am Cher, pittoresk bis idyllisch, geschäftig, überall Ziegenkäse-Spezialitäten-Shops, ein belebter Platz an der Kirche mit jeder Menge Bars, in denen kleine schnelle und nicht zu teure Salate mit Ziegenkäse erhältlich wären. Statt dessen war Montag. Das heißt: Alle Läden zu. Kein Bäcker, keine Bar. Nur beim ersten Haus am Platze, welches lt. angenagelten Schildern angeblich 1993 im Gault Millau ein paar Punkt ergattert hatte, waren Stühle vor die Tür gestellt. Nach intensiver Suche fanden wir doch einen Bäcker mit drei vertrockneten Hefeteilchen in der Auslage, welche wir als Notreserve für den Rückweg aufkauften. Als touristisches Rahmenprogramm entschieden wir uns für eine „Coca“ im ersten Haus am Platze zu 30 unverschämten Francs. Der Rückweg ging schneller. Auf der Südseite des Cher ging es immer schnurgeradeaus bei leichtem Gegenwind und der Sonne entgegen in etwas mehr als einer Stunde zurück nach Peguignon. Leistung: enttäuschende 44 km. Brigitte mochte keine Franc-Summe nennen, für die sie bereit gewesen wäre, die Strecke auf der Stelle noch mal zu fahren. Danach ein paar Fotos im Abendlicht, „Nachtessen“ und Bier trinken.

Dienstag, 17. Juli 2001
Erstmals Regen. Er steigerte sich bis Mittag, hielt sich dann konstant und ermöglichte Tätigkeiten allein im Hause. Selbst Spaziergänge mit Schirm waren nicht ratsam. Wir unternahmen trotzdem einen kleinen Gang am unteren Teich entlang, wo wir aber nach 30 m wieder umkehrten, weil man wegen der allgegenwärtigen Pferdekacke nicht weiterkam. Bei der kleinen Hütte am Ufer kamen die „Miniaturen“ wie Madame sie nannte (kleine Mini-Pferde) angelaufen auf der Suche nach Streicheleinheiten. So ein Minipferd ist im Schnitt kleiner als ein kleiner Hund. Bei der erwähnten Pferdekacke handelt es sich nicht um die allseits bekannten Äpfel von strohiger Konsistenz, sondern um großformatige Schafküttel. Zu Mittag gab es Pellkatoffeln, Tomate/ Auberginengemüse und Salat. Nach dem Essen begaben wir uns zum Überlauf, um nach dem ergiebigen Vormittagsregen die Durchlaufmenge zu messen. Um 15.30 startete das Nachmittagsprogramm. Es war etwas aufgeklart und wir kauften beim Super U zum dritten Mal für einen namhaften Betrag ein. Die Gummischuhe, baugleich zu unserem Erfolgsmodell von 1998, gab es in allen Größen, nur nicht in 43. Verdammt. Am Bahnhof von Noyer s/Cher bestaunten wir einen neuen Triebwagen, den allgemein gepflegten Zustand des Etablissements und sammelten einige kleine Fahrplanhefte ein. Auf der Strecke nach Tours werden Fahrräder umsonst mitgenommen. Daraus ergeben sich evtl. neue Planungsmöglichkeiten. Weiter gings nach Montrichard, ca. 20 km Cher-abwärts. Dort wollten wir uns eine Mühle ansehen, die auch als Ferienhaus im Katalog abgebildet war. Etwas außerhalb auf der südlichen Seite fanden wir die Mühle und verknipsten die letzten beiden Bilder auf dem Film. Auch Montrichard-City war von dem allgemeinen „Montags-und-Dienstags-geschlossen-Wahnsinn“ betroffen. Der Ort bot darüber hinaus auch nicht die Scharmanz etwa eines St. Aignan, so dass wir schnell damit fertig waren. In Erinnerung bleibt möglicherweise ein schöner Regenschauer, den wir in einem Ladeneingang abwarteten. Die Rückfahrt führte anders als hin nicht über die öde N76, sondern über die Dörfer am Hang den Cher-Tals entlang, wo sich Villen, Gärten und Weinkeller abwechselten. Trotz intensiver Suche nach jenen ebenfalls mietbaren Cher-Schleusen, allesamt aus nämlichem Katalog, fanden wir nicht eine. Das Wetter blieb spannend. Mal Regen, mal Wind, wenig Sonne. Zu Hause stellten wir fest, dass die auf Anhieb gefundene Mühle gar nicht im Katalog steht. Doch woher kannten wir sie? Das ist der Stoff, aus dem Gruselromane entstehen.

Beim Nachtessen, so gegen 20.00 Uhr setzte der Regen wieder ein. Wir gingen noch einmal die Durchlaufmenge kontrollieren und zogen uns, obwohl es noch hell war, zurück. In der Nacht schliefen wir nur unruhig, weil Sturm aufgekommen war. Die Bäume am Hang rauschten heftig, überall im Hause schlugen Türen, das alte Gebälk ächzte. Um 3.00 Uhr traten wir ans Fenster: Es war stockfinstere Nacht. Der Wind heulte. Entfernt wieherte ein Pferd. Im Schloss brannte Licht.

Mittwoch, 18. Juli 2001
Den Vormittag verbrachten wir wegen des anhaltenden Regens und Sturms im Haus. Ein Traumwetter. Mittags statteten wir bei de Redons einen kleinen Besuch ab, um das obligatorische „Souvenir de Paderborn“ zu überreichen und ein paar organisatorische Fragen zu klären. Auf dem Weg dorthin wären wir fast von 4 Bluthunden zerfleischt worden. Und der Gefährlichste war noch angekettet. Gegen 15.00 Uhr machte der Regen eine Pause. Wir beschlossen, Azay-le-Rideau und Chinon anzufahren. Ein erster Abstecher galt Schloss Chenonceaux. Der gleichnamige Ort spiegelte einen seit Jahrzehnten gut eingespielten Schloss-Tourismus wieder mit Hotels, Restaurants, Andenkenbuden. Vom Schloss ist aber beim besten Willen nichts zu sehen, weder von den Cher-Brücken vorher und hinterher noch von den Straßen. Nur wer sich aufs Gelände begibt und Eintritt zahlt, sieht auch etwas. Wir machten aus dem Trip eine drei-Flüsse-Fahrt und setzten vom Cher zur/zum Indre über. In Cormery kauften wir Teilchen, die wir aber dort nicht essen konnten, weil keine schöne Picknick-Stelle auszumachen war. Wegen des lauten Durchgangsverkehrs auf der N143 war Cormery trotz vielversprechenden Ansatzes – alte Abtei + Indre-Aue – nicht lange zu ertragen. Bis zum nächsten geplanten Zwischenstop in Montbazon – hier war nun in der Erinnerung endlich das Gite in der großen Mühle ausgemacht – fanden wir bei Esvres (auf deutsch Essfress) eine Stelle für den Verzehr der Teilchen. Das Indre-Tal südlich von Tour ist wunderbar alt-französisch kultiviert. Fluss-Auen, Schlösschen, Mühlen, Gärten, alter Baubestand in weißgelbem Sandstein. Überall Hinweise auf touristische Attraktionen wie Chateaux, Eglises, Moulins, Restaurants. In Montbazon fanden wir die bewusste Mühle aus dem 37er Katalog auf Anhieb. Sie lag sehr schön, hätte aber keinen individuellen Freiraum im Außengelände geboten, dafür aber viele Attraktionen in näherer Reichweite. Man weiß vielleicht auch nicht, was besser gewesen wäre. Wir machten dort einen kleinen Gang bis zur Indre-Brücke. Es fing wieder an zu regnen. Das nächste Ziel hieß Azay-le-Rideau. Hier waren wir 1983 abgestiegen, als zweite Zwischenübernachtung nach dem lothringischen Salat-mit-Gehirn-Hotel. Azay lebt von der touristischen Anziehungskraft seines Renaissance-Schlosses, welches als perfekt und formvollendet gilt, dazu in einer schönen Gartenlandschaft liegt. Eine quirlige kleine Stadt mit entsprechend vielen Hotels und Restaurants. Mit dem Schloss waren wir schnell durch: Ein schön designetes Schild am Geländeeingang, Wiedererkennen der Zufahrts-Allee, Abschätzen des Eintrittspreises von 35 Francs als zu teuer, fertig. Mehr Zeit wendeten wir für das Wiederfinden jenes schlimmen Hotels von damals auf. Es hatte einen Hinterhof, zu welchem sowie den Abdünstungen der Küche hin unser Zimmer lag, in dem wir in jener Nacht vor Hitze, Geräuschen, Frischluftfehlen und Gestank kein Auge zubekamen. Es gehörte zu den 5 schlimmsten Hotelzimmern unserer kumulierten touristischen Lebenserfahrung – siehe gesonderte Beschreibung. In guter Erinnerung liegt allerdings das Abendessen im selbigen Hotel (Steak, Frites, Salat, dazu ein ungenießbarer Chinon) auf der kiesbelegten Terrasse. Im Prinzip trafen alle Erinnerungen an das heute gefundene Hotel Monarque zu, nur die gekieste Terrasse hatten wir offener und heller in Erinnerung. Der Zimmerpreis lag bei 430 Francs, damals 160 Francs. Da man den ununterbrochenen Regen viel besser im Auto als zu Fuß in der Stadt aushält, machten wir uns auf zur dritten Station: Chinon an der Vienne, Schauplatz der Handlung eines Romans, den Brigitte frisch gelesen hatte: Historienschinken, Love-Story und Krimi in einem. Als wir in Chinon ankamen, war der Regen zum Wolkenbruch ausgewachsen, so dass wir zunächst nicht aussteigen konnten. Wir warteten parkend vor einer in den Hang getriebenen Kellerei und vermuteten beim Blick auf die regenverschleierte Vienne eher das offene Meer. Als der Regen etwas nachließ, begannen wir nach einigen Brückenfotos, systematisch die Schauplätze des Romans abzuhaken: Die Burganlage, zum Glück ab 19.00 Uhr geschlossen. Der Weinberg mit dem geheimen Stollen, das Hotel de France, wo wir zum Schluss auf einen Schluck einkehrten. Chinon machte einen netten Eindruck. Wir hätten ebenso dort bleiben können. In sehr weitem Bogen um Tours ging es über Loches zurück nach Peguignon. Das waren knapp zwei Stunden sehr einsame Landstraßen, auf denen uns in der ganzen Zeit keine 10 Autos entgegen kamen, dafür aber mehrere Hyänen und eine gezielte Dosis Grusel. Bei Rückkehr bestand unsere erste Amtshandlung im Messen der Durchlaufmenge. Wir gingen zu Bett, lange nachdem die Dunkelheit einbrach.
Zur Klassifizierung der drei Flüsse wären folgende Vergleiche möglich:

  • Cher = Weser bei Beverungen
  • Indre = Lippe bei Lippstadt
  • Vienne =  Mosel bei Koblenz

Donnerstag, 19. Juli 2001
Beim Erwachen regnete es nicht. Dann und wann kam kurz die Sonne durch. Um 11 erschien Madame und lud uns für Sonntag um 19.00 Uhr zum Aperitiv ein. Riesenschreck und schluck. Denn das schmeichelt einem zwar, macht aber auch verlegen und wirft Komplikationen auf. Was schenkt man? Was zieht man an? Vor allem: Was und in welcher Sprache spricht man? Sollen wir das Thema ganz auf Pferde verlegen? Z.B. so: „ä Madame, Sie aben schöne Pfärdä. Wissen Sie eigendlisch, dass auch unsere Schwägerin ein Pferd at? Alors, so ganz ist sie noch nischt unsere Schwägerin. O la la, maintenant aben wir zuviel verraten. Niemand darf wissen, dass wir eine Schwägerin aben. Vergessen Sie bitte schnell, Madame.“ Die Neue Westfälische von Montag war immer noch nicht eingetroffen. Wir beschlossen, Lachssteak mit grünen Bohnen zu kochen und begaben uns gegen 12.20 in Richtung Super U. 3 vor halb schlossen sie, wir kauften nix und fuhren ziellos nach St. Aignan City weiter. Als wir beim Lieblingsrestaurant vorbei kamen, hätte es uns fast zum Essen reingezogen, aber vor Angst gingen wir weiter. Die Stadt war wegen der Mittagszeit wie ausgestorben. Wir fassten ein Herz und betraten doch das Lieblingsrestaurant. Was die andern fraßen, sah halbwegs lecker aus. Wir wurden Tisch an Tisch neben ein unsympathisches älteres französisches Touristenpärchen gesetzt. Es war keine Gelegenheit für Experimente und wir verzichteten auf das empfohlene Einheitsmenü für 69 Francs: Salat mit Wurststücken, Lammsteak mit Bratkatoffeln, Nachtisch. An Salaten gab es den Landsalat, den Nordischen und den mit Melone. Komischerweise sahen wir den Chevre Chaud nicht mehr, auf den wir uns so gefreut hatten. Wir bestellten zweimal Landsalat mit Entenbruststreifen als besonderem Clou. Das Entenfleisch war so gut wie roh. Der Teller war überwiegend mit Pilzen aus der Dose gefüllt. Am besten schmeckte das Bagett mit Butter. Durch Zusatzartikel wie Wein, Wasser, Cafe, Eis, Crepe stieg die Rechnung auf das Doppelte des reinen Fraßes an. Da zufallsbedingt auch das Trinkgeld (wir nennen die Summe lieber nicht) so ausfiel, als hätte unsere Elterngeneration die Rechnung beglichen, werden wir hier so schnell nicht wieder einkehren. Außerdem wurde die Einrichtung nach dem Verlassen von „Lieblingsrestaurant“ auf „Imbissstube mit Sitzgelegenheit“ deklassiert. Bei einem Verdauungsspaziergang in der Cher-Aue trafen wir auch noch die üblen Tischnachbarn wieder. Nach kurzer Erholungsphase brachen wir um 16.00 Uhr dank ausbleibenden Regens zu einer kleinen Radtour auf. Mit dem Auto bis Montrichard, dort Parken und mit dem Rad weiter, um eine inoffizielle Schlossbesichtigung in Chenonceaux zu absolvieren. Nicht dass uns Chenonceaux interessiert hätte, aber wir wollten jegliche Ungewissheit darüber beseitigen. Die Schmerzgrenze lag bei 50 Francs, die sie auch schamlos ausnutzten. Zum Schloss gibt es eigentlich nichts zu sagen. Es war voll, aber nicht unerträglich. Wir besichtigten brav alle Räume, die überwiegend aus „Gemächern“ bestanden. Heute würde man statt „Gemach der Diana von Poitier“ „Schlafzimmer der Freundin“ sagen. Sofort bekommt man ein schlechtes Gewissen, dass man über diese Diana so recht nichts weiß und blättert hastig in dem Schlossprospekt, welches im Eintrittspreis generöserweise inbegriffen war. Unwillkürlich assoziiert man mit dem Namen die Fresse jener Diana, die besser als Herzogin von Kent bekannt war und sich vor ein paar Jahren in Paris dem Arsch abfuhr. Der andere Name, der hier am Beispiel weiterer Gemächer auftaucht, ist Katharina von Medici. Sie hatte lt. Legende nichts zu melden und war hässlich: alles klar, das war – unter umgekehrten Vorzeichen – Camilla. Es reichte uns und wir ersparten uns die zweite Etage. Am besten gefiel der zum Gelände gehörende Gemüse- und Blumengarten. Dort gab es gut tragende Apfelbäume, die maximal 50 cm hoch waren, dafür aber zig Meter lang, wie Erdbeer-Reihen. Für den nicht ganz trockenen Rückweg nach Montrichard wechselten wir mehrmals die Cher-Seite. Kurz vor Schluss kam die Sonne wieder raus. Mit Blick auf die alte Montricharder Cher-Brücke genehmigten wir uns in einer Kneipe draußen ein Bier (12 Francs). Der Kneiper und die Gemeinde seiner Stammgäste verlangten und bekamen von uns höchste Bewunderung für einen aus ihre Mitte, der das Kunststückchen vorführte, 300 Meter auf der Uferstraße mit seinem Bock nur auf dem Hinterrad daher zu brettern. Peguignon, Abendessen, gute Nacht.

Freitag, 20. Juli 2001
Früher fanden am heutigen Datum Gedenkstunden im deutschen Bundestag statt: Vor 55 Jahren ereignete sich das allgemein in die Geschichtsbücher eingegangene einzige Attentat auf einen ehemaligen Arbeitskollegen von Udos Vater. Auch wir gedachten kurz. Bei Aufstehen: Sonne. Später kamen Wolken hinzu, es blieb aber freundlich. Wir kochten kein Mittagessen, sondern holten nur etwas ein, für ein warmes Nachtessen. Gegen 12.30 brachten wir zu einer Radtour auf. Auf unterschiedlichen, sehr hügeligen Strecken für hin und zurück ging es in südöstlicher Richtung nach Valancay, wo ein großes Schloss den äußeren Rahmen bestimmte. Es herrschte dort ein sehr verhaltener Tourismus, vergleichbar vielleicht mit Corvey. Der Andenkenverkauf war sehr professionell organisiert. Wir kauften vier Ansichtskarten. Höhepunkt der Fahrt war der Kauf eines Mandelhörnchens und einer Apfeltasche bei einem der vielen Bäcker. Warum diese Art von Radtouren niemals rundum zufrieden machen, liegt daran, dass man zum Ausgangsort zurück fährt, also mehr oder weniger im Kreis. Es ist kein rechtes Ankommen, denn dazu bräuchte man ja streng genommen gar nicht los. Am Ziel hat man immer noch den Rückweg vor sich, der Faktor Spaß und Abenteuer wird von dem Faktor Anstrengung und Langeweile überlagert. Heute zum Beispiel: Wieviel schöner wäre es gewesen, wenn wir in Valencay nicht wieder zurück nach Peguignon gemusst hätten, sondern weiter gefahren wären auf Chateauroux zu oder irgendwohin in südlicher Richtung. (Unser bisher nicht erfüllter, langjähriger Wunschtraum: Eine einwöchige Radtour zu viert, aber mit nur 2 oder 3 Fahrrädern durch die zentralen Gebiete Frankreichs. Radler und Fahrer des geräumigen Begleit-Autos wechseln sich ab. Optional wird eine Woche am Meer drangehängt. Übernachtung in Hotels, tägliche Strecke 60 bis 80 km. Das jeweilige Autoteam hat mehr Zeit zum Besichtigen, muss aber auch für die Versorgung mit Leberwurst, Brot, Nektarinen und Bier sorgen. Man trifft sich z.B. zur gemeinsamen Mittagspause, für die das Autoteam eine Stelle findet oder ein schönes Restaurant.) Ungewöhnlich frühzeitig, gegen 17.30 Uhr, trafen wir – schlapp von den vielen Bergen – wieder auf Peguignon ein und fanden erstmals die Neue Westfälische vor, in diesem Fall vom Mittwoch. Sie hatten in der Adressierung ungefragt HOTEL davor gesetzt – Frechheit. Nach einer gemütlichen Ruhepause kochte Brigitte aus den vormittags gekauften Zutaten – grüne Bohnen und Lachs – das Mittagessen von gestern. Abendprogramm: Mit dem Auto zum Bahnhof von Noyer und dort den Oppa anrufen.

Samstag, 21. Juli 2001
Den ganzen Tag strahlend blauer Himmel und Wärme, die am Nachmittag fast zur Hitze wurde. Wir machten den Ruhigen und nahmen uns keine Fahrt vor. Den Vormittag verbrachten wir in der City von St. Aignan, kauften auf dem Markt ein (u.a. zwei Brote, weil wir uns an das erste gekaufte Brot schon nach einigen Minuten nicht mehr erinnern konnten und daher ein zweites kauften) tranken ein Bier beim Mürrischen, machten Fotos auf der Cher-Insel, verzichteten darauf, den groß angekündigten Brocante-Markt zu besuchen, weil für 15 Francs Eintritt die Verkaufs- und Ausstellungsfläche in einer kleinen Bruchbude mitten in der Stadt zu klein erschien. Vermutlich weggeworfenes Geld. Andererseits eine konsequente Vertriebsidee: Warum nicht für alles und jedes erst mal Eintritt nehmen? Das wird bisher viel zu wenig praktiziert. Z.B. :

  • Paderschänke: 2,50
  • Dom: 2,00
  • Vincenz-Krankenhaus:  2,50
  • Kasseler-Tor-Brücke + Bahnübergang Kilianstraße je 2,00
  • Westernstraße inkl. Königsplatz 1,50
  • Kombi-Ticket mit Kamp, Rosenstraße, Rathausgallerie:  2,50
  • Haxtergrund: 1,50
  • Südring-Center: 8,00
  • Bahnhof: 0,50 (übrigens: bis in die 60er Jahre gab es die Bahnsteigkarte für 20 Pfennig, eine kleine graue Pappe mit schwarzer Schrift)

Sonderpreise minus 50 % Dienstag und Donnerstag zwischen 11 und 14 Uhr. Sonntags in der ganzen Innenstadt außer Favretti nur 0,50, Favretti 3,00 Einmal im Vierteljahr freier Eintritt. Keine Rabatte für Schüler und Rentner, keine Monatkarten, Dauer-Abonnements, Kreditkarten, nein, nur Barzahlung, es muss weh tun.

Den ganzen Tag über blieb das Wetter so toll, dass man es kaum fassen konnte. Das Auto-Thermometer sagte 33 Grad im Schatten, und das lügt nicht. Strahlend blauer Himmel ohne Wolken. Wir trödelten nachmittags am Haus rum, machten einen kleinen Gang am oberen Teich entlang und stellten fest, das die Fische vielleicht nur 10 bis 15 cm Wassertiefe zur Verfügung hatten, denn mit dem Rücken kuckten sie an der Oberfläche raus und mit dem Bauch wirbelten sie Schlamm auf. Um 19.30 ging es mit dem Fahrrad nach St. Aignan, nochmal von der Burgmauer auf den Cher runter fotografieren, diesmal bei Abendlicht und weiter zum Bahnhof nach Noyer, wo wir bei unserer Lieblingstelefonzelle nacheinander die T-Net-Box, Steinhövels (es meldete sich keiner) und Ulkers in der Normandie anriefen. Überall war alles paletti. 18,5 schöne Kilometer. An diesem Samstag wurde allgemein viel geheiratet, wie man an dekorierten Autos, läutenden Glocken, vermeintlich schick Gekleideten und Feten in häuslichen Gärten feststellen konnte.

Sonntag, 22. Juli 2001
Super-Wetter wie gestern. Bereits um 9.00 Uhr mussten wir den Sonnenschirm vor dem Haus aufstellen. Es waren Besorgungen zu erledigen: Ein Federball-Spiel, Bier, Brot und vor allem die Blumen, die wir zum Captain’s Dinner um 19.00 Uhr überreichen wollten. Zunächst ging es zum Intermarché‚ bei Noyer, eine Nummer größer als das Super U von St. Aignan. Federball-Spiele waren aber zu teuer, Bier unserer präferierten Marke 33 gab es nicht und Gummischuhe der Größe 43 schon gar nicht. Ein Schuss in den Ofen. Französische Blumenläden haben es nicht drauf. Ministräuße sind unbekannt, man liebt es eher üppig bis kitschig, uns so redete die Blumenfrau an unseren Vorstellungen vorbei. Im Gebiet der inneren City gibt es drei populäre Kneipen: den Mürrischen, das „Weiße Kaninchen“ und die „Kassierte Pumpe“. Komischerweise ist das Weiße Kaninchen immer prall gefüllt, während niemand in der Pumpe sitzen möchte. Unser Einkaufsabschlussbier tranken wir diesmal aber nicht beim Mürrischen, sondern draußen vorm Hotel zur Mühle bei der Cher-Brücke. Die Zimmer waren billig (130 – 165 Francs), hatten aber Defizite bei der Ausstattung, nur die Zimmer 7 und 16 verfügten über Dusche/Bad UND Klo auf dem Zimmer, alle anderen hatten so etwas gar nicht oder „au Etage“. Wie wir inzwischen gelernt haben, verschwanden wir landessittengemäß rechtzeitig zur absoluten Mittagszeit (spätestens 12.00 Uhr, besser 11.50) von der Bildfläche. Wir bereiteten zu Hause eine für mehrere Tage reichende Ratatouille zu.

Karte an Manfred Debis
Grüße aus der Knüste: Urlaub in der Mitte Frankreichs. Wir sind zu Gast auf dem old Family Estate derer „de Redons“. Das Pferdeproblem haben wir im Griff. Nachts jedoch schütteln uns böse Albträume: „Wir sitzen in einem Zimmer mit Karl-Heinz Voss und Heiko Paskowski. Voss brütet schweigend mit erstarrter Mine wie ein Krokodil vor sich hin während der blasse Heiko mit rotgeränderten Augen die düsteren Pläne seines Meisters zu erraten versucht, diese an Gemeinheit und Perfidität noch übertreffend in vagen Andeutungen an uns weiterkommuniziert, auf dass wir aus diesem Gemenge eine geschmacklose und unverständliche Broschüre gestalten sollen. Wir zittern vor Angst und Ausweglosigkeit“. Und wachen schweißnass auf.

14.30 Uhr Abfahrt zu dem ausgekuckten touristischen Tagesprogramm: In Nouant-les-Fontaines gibt es in einer Dorfkirche eine Piet… des Malers Jean Fouquet. Es war brütend heiß und wir wählten für den Trip das Automobil. Im Dorf und in der Kirche waren kein Mensch zu sehen, es kostete auch überraschenderweise keinen Eintritt. Beim Altar lag ein Poesie-Album aus, in dem man Sprüche eintragen konnte. Viele vor uns hatten ihre Kommentare abgegeben in der Bandbreite von „das Bild ist nicht schlecht gemalt“ bis „das ist das wunderbarste, was ich je gesehen habe“. Deutsche Einträge erkannte man an den urteilskräftigen Wertungen „geil“ und „cool“. Wir enthielten uns traditionell der Stimmabgabe und reisten weiter nach Montresor. Attraktion war die schön gelegene Schlossburg. Allein für Hof und Gelände – sie nannten es Parc – nahmen sie 20 Francs Eintritt. Nach einer halben Stunde ging es wieder zurück nach Peguignon, wo wir uns gedanklich, hygienisch und moralisch auf den Antrittsbesuch bei de Redons vorbereiteten. Pünktlich um sieben standen wir auf der Matte. Im Gartenpavillon wurden wir von Madame, Monsieur, den Söhnen und den Höllenhunden begrüßt. Man servierte einen Vouvray mit ein paar Salzchips und Wurstscheiben. Der Small Talk wurde auf englisch und französisch geführt und drehte sich, wie zu erwarten, um Urlaub, um Frankreich, Vergleich verschiedener Aspekte des Lebens in beiden Ländern, Reisegewohnheiten, und das allgemeine Treiben der am Gespräch Beteiligten. Leider hatte Monsieur über seine wenigen Kontakte zu Deutschland nichts Gutes zu berichten. Wir bedauerten aufrichtig und versuchten durch viel Verständnis, null Widerspruch, Scharmanz und gute Kenntnisse französischer Belange von Bild der Deutschen noch zu retten, was möglich war. Um 20.15 hatten wir die schwere Aufgabe geschafft und verabschiedeten uns. Bei einem relativ unentschiedenen Badminton-Match löste sich unsere große Anspannung. Nun konnte der Urlaub beginnen. Am Abend kam sogenannte „Schwüle“ auf. Wenn dieses Wort von dem umgangssprachlichen „Schwul“ abgeleitet ist, müsste es in seiner förmlichen Fassung ja heißen: Am Abend kam Hömösexüalität auf. Auch die Tierwelt war in aufgebrachter Verfassung, man merkte das an den vielen Gewitterfliegen und fliegenden Ameisen, von denen die meisten die Barriere der Fensterscheiben nicht durchdrangen, aber einige eben doch. Weit nach Mitternacht rückte langsam das angekündigte Gewitter näher, hielt sich aber rechts vom Haus, denn man sah aus dem Schlafzimmerfenster (Schloss-Seite) keine direkten Blitze. Der mit dem Gewitter aufkommende Regen war nicht sehr ergiebig. Am Morgen schien wieder die Sonne.

Montag, 23. Juli 2001, Hochfest des hl. Liborius
Der heiße Tag stand ganz im Zeichen einer kombinierten Fahrrad/Schlössertour. Wir reisten mit dem Auto in Chaumont an, setzten über die Loire und parkten am Bahnhof in Oinan. Auf kleinen Wegen ging es überwiegend neben der Loiretal-Bahn entlang bis Amboise. Loiretal hat nichts mit Tal zu tun. Es sind weite Ackerlandschaften mit Kornspeichern und Maisfeldern. Es geht immer geradeaus und wirkt manchmal öde. An einer Stelle versuchten wir an der Loire zu picknicken, aber es gab nur noch Stehplätze, denn am kleinen Aussichtspunkt stand bereits ein Wohnmobil. Unsere erste Amtshandlung in Amboise war das Einkehren. Wir bildeten uns ein, im gleichen Straßencafé‚ wie 1983 zu sitzen. Als Spezialität des Hauses gab es Bretter. Wir kauften ein großes Gourmand-Brett (pralinenschachtelgrosse Toastbrotscheibe, belegt mit Lardons, Tomaten, Pilzen aus der Dose, Kartoffeln, geraspelter Käse, das Ganze überbacken und als Knüller ein Spiegelei in der Mitte.) Brigitte nahm Galette mit Hühnerfleisch. Dazu ein belgisches Grimbergen-Bier, dessen Glas wie ein de Koninck-Bolleke aussah aber zu alkoholisch schmeckte, ein Viertel Rosé‚ und als Überraschung eine Karaffe Wasser. Es wurde immer heißer, so dass die anschließende Zu-Fuß-Besichtigungstour zur Strapaze geriet. An eine Schloss-Besichtigung war in unserem Zustand nicht mehr zu denken. Wir hatten genug damit zu tun, bei weit über 30 Grad unsere mitgeführte Wintergarderobe, den schweren Rucksack, die Kameraausrüstung, und allerhand Krimskrams in den Hosentaschen zu bewältigen. Immerhin lernten wir zu Fuß die komplette Altstadt bis in die Außenbezirke kennen, u.a. das Luc‚ Clos, eine Villa in einem alten Park, in dem es um den dort seinerzeit gelebt habenden Leonardo da Vinci ging. Amboise war zu über 100 % vom Touristenrummel geprägt und völlig über das Ziel hinaus geschossen. Das Volk auf den Straßen war so schräg, dass es schon wieder gut war. Wir sahen komplette Tommy-Familien einheitlich in karierten Hosen oder lila gefärbten Haaren. Ein Kerl nahm an einer Andenken-Bude sämtliche Poster vom Ständer und legte sie auf den Boden, um sie abzufotrografieren. Der Rückweg war beschwerlich, da wir, um dem starken Autoverkehr auf der Uferstrasse zu entgehen, auf Neben- und Umwege auswichen. Es ab Rilly, kurz vor Chaumont, wurde es wieder nett. Chaumont war in seiner Schlichtheit eine Erholung. Wir fuhren noch zum Schloss hoch und wandelten gratis im schönen, weitläufigen Park mit ausgewähltem seltenen Baumbestand und Blick über die Loire-Lanschaft. Von sehr weitem sah man die die beiden  ungewöhnlichen Speichergebäude mit der Jahreszahl 1937 am Bahnhof Oisnan aus den Bäumen ragen. Um 19.30 kamen wir wieder auf Peguignon an. Komisch. Dabei hatten wir noch auf dem Hinweg auf Amboise zu, so gegen 12.30 Uhr, geglaubt, nach zeitiger Rückkehr nicht zu wissen, was wir mit dem angebrochenen Nachmittag anfangen sollen. Vielleicht eine zweite Radtour.

Dienstag, 24. Juli 2001
Wieder Super Wetter bis über 30 Grad. Wir verbrachten den Vormittag mit Wäschepflege und Korrespondenz. Nach dem Mittagessen brachen wir zu einer kleinen Radtour auf, die allerdings weit entfernt im Departement 37 jenseits von Tour die Landzunge zwischen der Cher-Mündung und der Loire zum Ziel hatte. Die Autofahrt dorthin zog sich hin. Erst um 15.30 startete die knapp 17 km kurze Rundfahrt durch eine abgelegene grüne Flusslandschaft auf einer schmalen, auf einem Hochwasserdeich verlaufenden Straße. Die Einmündung des Cher in die Loire zeigte sich enttäuschend, man sah kaum mehr als bei der Einmündung der Alme in die Lippe. Man kam durch das Dickicht von Gehölzen und Pappeln auch nicht richtig hin. Wäre unsere Tourenplanung etwas flexibler gewesen, hätten wir die sich unerwartet auftuende Möglichkeit der Loire-Überquerung per Eisenbahnbrücke (Strecke Tour – Saumur) genutzt. Ein schmaler Pfad führte dorthin. Das Betreten des Bahnkörpers war lt. Schild offiziell untersagt, was sich aber so las, als sei man im Grunde herzlich eingeladen, stundenlang auf dem Bahnkörper herumzutrampeln und die herbeidrängenden Züge nur nach ausgiebigem Bitten durchzulassen. Am Ausgangsort zurück, kehrten in einem gemütlichen Straßencafe ein. Brigitte tat das einzig Vernünftige und bestellte einen Croque Monsieur, über dessen durchschnittliche Verfügbarkeit im Land und im Laufe der Jahre wir uns im Urlaubstagebuch 1999 (Lancheres/St. Valery s/Somme/Le Treport) ausführlich erklärt hatten. Zu diesem Edel-Croque gab es zwei Kanterbräu Gold. Über Tours ging es zurück, diesmal auf einer etwas südlicheren und schöneren Strecke.
Mittlerweile hatte dank des heißen trockenen Wetters die Getreideernte zu unserer Beruhigung doch noch eingesetzt. Die ganze Nacht hörte man das Brummen der Mähdrescher.

Mittwoch, 25. Juli 2001
Stabiles Superwetter. Heute wollten wir den Ruhigen machen. Vormittags etwas einkaufen, die seit Tagen im Auto mitgeschleppte Korrespondenz bei La Poste aufgeben und einen Trinken. Es ergab sich ein freier Tisch beim weißen Kaninchen, wo wir ein Bier bestellten, in der Hoffnung, es wäre ein Amstel, wie es auch die anderen Gäste tranken. Leider bekamen wir dieses hefig-stark alkoholische 1664 (5,5% Alc.) vorgesetzt. Wir beobachteten einen selbst für unsere Begriffe „alten Bekannten“, den in St. Aignan zum Stadtbild gehörenden bierbäuchigen Rentner – wir kennen seinen Namen nicht, sagen wir, Monsieur Jean – mit Radfahrerkluft und klapperigem Rennrad, älteres Modell. Er kurvt durch den Ort, hält oft an und trifft Bekannte, die er mit Handschlag begrüßt. An der Bar des Kaninchens kaufte Jean mehrere Male hintereinander jeweils ein Rubbellos, ging zu seinem Fahrrad und rubbelte. An seiner gleichförmigen bis etwas enttäuschten Mine konnten wir leicht erkennen, dass er die Bar nicht erneut aufsuchte, um seinen Gewinn abzuholen, sondern um ein neues Los zu kaufen. Ähnliche Begebenheiten ereigneten sich anno 2000 in Perros-Guirec, siehe entsprechendes Tagebuch. Zu Mittag gab es Tomatensalat, grüne Bohnen, Kartoffeln und zur Auffrischung unseres körpereigenen Zinkhaushaltes Entrecote (Rolf würde sagen Zwischenküste). Damit auch andere davon eine Vorstellung bekommen, fotografierten wir die Szene. Den Nachmittag verbrachten wir am Haus. Zur Feierabendszeit machten wir einen kleinen Autoausflug nach Selles (wie gesagt – angeblich alles ein einziger riesiger Ziegenkäse. Nach wir vor haben wir jedoch noch keine reale Ziege zu Gesicht bekommen) und nach einem kleinen Zwischenaufenthalt entlang am stillgelegten Canal de Berry weiter nach Chatris s/Cher. In Selles drückten wir uns die Nase platt am Schaufenster einer Quincaillerie (Fachgeschäft für Kinkerlitzchen). Das Sortiment entspricht dem von Eisen-Kretschmann, Schloss Neuhaus Schlossstraße, seit Mitte der 1960er Jahre dort leider nicht mehr vorhanden bzw. Schreckenberg, Königstraße/Ecke Marienstraße, allerdings ergänzt um das komplette Sortiment für den Angler. Sie hatten sehr schöne Klappmesser für das Ausweiden von Fischen an Ort und Stelle und professionelle Korkenzieher für den Weintrinker. In unserem Maison des Etangs wächst sich ein Müllproblem aus. Beim Entsorgen der Tüten droht jedesmal die Begegnung mit den vier Hunden, die immer wieder vergessen, dass sie sich mit uns bereits angefreundet hatten. Also nehmen wir den Müll bei unseren Ausflügen über Land mit und stopfen den in der Regel in Container an öffentlichen Rastplätzen. Ist das nicht möglich, fliegt er auch schon mal in hohem Bogen aus dem fahrenden Auto in irgendwelche Vorgärten.

Da wir noch keine Lust auf einen vorzeitigen, stumpfsinnigen Abend auf Peguignon hatten, trieben wir uns noch ein wenig am Cher bei St. Aignan rum. Ein Riesentrecker nach dem anderen transportierte vollgehäufte Anhänger mit Korn zum Speicher bei Noyer. Wir waren beruhigt, hach, war das schön. Trecker! Speicher! Auf der Cher-Mittelinsel startete gerade ein Karaoke-Abend, bei dem aber noch nichts los war. Langsam verstanden wir das Timing: Von 18 – 21 Uhr tote Hose, danach erwacht punktuell das Nachtleben. Wieder zu Hause, mussten wir machtlos erneut der Plage durch die fliegende Ameisen am Schlafzimmerfenster ins Auge sehen. Wir vertilgten die letzten aus Paderborn mitgebrachten Lebensmittel. Der Käse musste ganz klar weg.

Donnerstag, 26. Juli 2001
Kein Wort zum Wetter. Wir brachen früh auf in Richtung Tours. Parkplatz in der Innenstadt war kein Problem. Erst besichtigten wir die Kathedrale St. Gatien, in der Gewissheit, dass dieses Patronat nur formal mit dem hl. Martin nichts zu tun hat, wir ansonsten aber voll auf der Martins-Spur waren. In der Kathedrale merkwürdig wenig Martins-Rummel. Egal. Bummel über eine Fußgängerbrücke zur anderen Loire-Seite, wo aber nichts los war. Durch die restaurierte Altstadt wieder zurück zum Auto, keine Einkehr. Picknick am Cher bei einer alten Mühle. Weiter nach Villandry, Schloss- und Gartenbesichtigung. Es war sehr heiß, wahrscheinlich über 30 Grad, und wir schleppten uns durch die Anlage. Im Schloss bekamen wir gute Anregungen für die anstehende heimische Renovierung. Man durfte in viele Säle und Zimmer rein und stellte immer wieder Hinweise auf Persönliches fest, an denen man merkte, dass das Schloss noch in Privatbesitz ist. Mit großem Aufwand wurden die riesigen Gartenanlagen unterhalten. Später in Azay-le-Rideau sahen wir einige der Touristen wieder, die schon in Villandry rumrannten – Beweis für die alte Theorie von den stets gleichen Pfaden. Azay war nötig, um mit letzter Konzentration herauszufinden, in welchem Hotel wir damals, 1983, denn nun wirklich übernachtet hatten. In einer Kneipe bestellten wir zunächst 2 Croque Monsieurs, die nicht so lecker waren wie jener vorgestern.. Die „Coca“ kam um so besser. Wir beobachteten zur Entspannung eine deutsche Familie am Nebentisch, wo die Kinder – Jan Hendrik (9) und Miriam (11) Juice de Pommes – also Kartoffelsaft – verlangten und Mutter Adelheid (43) sehr verkniffen kuckte und an den in Wahrheit unauffälligen bis eingeschüchterten Kindern unnötig rummeckerte. Den Vater merkte man überhaupt nicht, er hatte nicht den Hut auf und backte kleine Brötchen, weil nur die verkniffene Adelheid sich in französicher Sprache vernehmungsfähig zeigte. Eine Ehe, die wir nicht hätten führen mögen. Beim Verlassen des Ortes kamen wir noch mal am Hotel Monarque vorbei. Jetzt fiel es uns wie Schuppen aus den Haaren: unsere bereits mit leisen Zweifeln behafteten Erkenntnisse, niedergeschrieben unter dem 18. Juli dieses Tagebuches, stimmten nicht! Und so trug es sich wirklich zu: Wir übernachteten 1983 wie gehabt im Hotel Monarque. Aber das Abendessen fand 100 Meter weiter statt, auf der Kies belegten Terrasse eines anderen Restaurants, in dem wir heute vergeblich zum Essen einzukehren nachsuchten. Aber man hielt auf gute Sitten und alte Traditionen – um 15.00 Uhr gibt es kein Essen. Ein Zwischenstop im Tal der Mühlen, das ist das Tal des Indre, bei einer besonders idyllischen Mühle in Pont de Ruan. Ein weiterer Zwischenstop in Montrichard, um uns in einer unserer Stammkneipen, die wir im Cher-Tal abgesteckt haben, mit einem Bier für den Rest der Strecke zu stärken. Es war sehr schwül, alles klebte, und am Strand (gegenüberliegende Seite) war auch nicht viel los.

Karte an Hucky Eveningroth, nach einer Tagebuchvorlage vom 28.4.1989:
Lieber Hucky, hier ein Auszug aus unserem Tagebuch:
Die Hinfahrt. Überall Wohnmobile in Kack-Braun und Kotz-Beige. Der Wohnmobilist trägt Vollbart, mindestens Schneuzer und ist immer trendy im glänzenden türkisen oder pinkygen Jogginganzug gekleidet. Im Toyota Landkreuzer fressen sie grade. Wir stecken im Stau, zusammen mit Brummi.  Wir passieren Pforzheim. Böse Vorahnungen. Wer kauft uns jetzt die Urlaubsration von 14 Kilo frisches Hundefutter (Ranzen, Pansen usw.) ab, gestern noch im Südring besorgt? An der Grenze dann das Drama: Für den Hund wird eine 6-monatige Quarantäne verlangt. So sind die Franzosen. Kein Bestechungsgeld hilft. Tja, wir mussten Purzel notschlachten. 9 Kilo wog er lt. amtlicher Urkunde des Grenz-Schlächters, alles abgefüllt in Dosen. Das gute treue Tier. Die Dortmunder Böcke blieben zusammen weiter hinten und die H-Böcke (Hannover), die kommen jetzt zusammen an. Hatten wir doch schon alle mal überholt. Stop und Go – wir halten uns wach mit Spielen. Links immer ein Passat „Schon mit Katalysator“-Sticker am Heck. Wow. Fortsetzung folgt.

Karte an Bluhms:
Liebe Bluhms,
dieses Jahr schreiben wir niemandem aus dem Urlaub, hat keiner verdient. Keiner? Zwei Ausnahmen gibt es: Treue Kartenschreiber, die uns Jahr für Jahr bedenken: Tante Ulla und Ihr! Während Ihr sicher gerade irgendwo zwischen Hammerfest und Cap Sao Vincente, bei Taormina oder Bergen aan Zee, bei Millstadt am Millstädter See oder auf der Düne von Pylat, bei den Salzburger Festspielen, zwischen der Masurischen Seenplatte und den Weiten Andalusiens unterwegs seid und bei einem Glas Rotwein den phantastischen Blick auf die Bucht oder die Gipfel genießt und eure Kinder fragen „Vater, Mutter, was können wir noch Liebes für euch tun?“ packen wir gerade die Koffer, um endlich unseren Reiterhof verlassen, ohne jemals geritten zu sein. Nähere Informationen auf Anfrage an: die.mutter@googlemail.de

Freitag, 27. Juli 2001
Der letzte Urlaubstag. Das Wetter schwül, bedeckt bis sonnig. Wir hatten keine lange Liste mehr abzuarbeiten, kein Foto zu schießen, nur noch ein wenig Einkaufen und Putzen. Es war keine bezahlte Endreinigung vereinbart und so blieb diese verhasste Aufgabe an uns hängen. Das Wischen ist das Schlimmste. Beim Einkaufen legten wir sehr viel Sorgfalt auf das Finden der Gummischuhe. In einer Quincaillerie fanden wir eine große Auswahl, drei Sorten in allen Größen – fast allen Größen. Man ahnt, wie es endete. Wir werden morgen als letzte Amtshandlung noch mal bei der Quincaillerie anhalten um wenigstens den Namen der überragend guten Marke zu notieren, als Zielrichtung für die weitere Suche in den nächsten Jahren. Während viele drittklassige Gummischuhe made in Italy waren, kamen die mhm-mhm-mhm-Gummischuhe aus France.
Nach dem Packen, Duschen, Abendessen ging es zum Abschiedsbesuch nach St. Aignan: Müll wegschmeissen, Post aufgeben, beim Mürrischen ein letztes Bier trinken. Er hatte die Preise auf 13 Francs erhöht. Beim Lieblingsrestaurant hatten sie das Menü von 69 auf 78 erhöht. Anscheinend nimmt die Saison verschärfte Formen an.

Brief an den Messdiener O.

Lieber O.,
sicher wunderst du dich, dass ich mich schriftlich an dich wende, aber im mündlichen Gespräch bin ich dir, dem studierten Akademiker mit zweifachem Diplom, einfach unterlegen. Beim Schreiben jedoch kann ich meine Worte wohl überlegen und am Text feilen, bis er in etwa meinen Gedanken, Intentionen und Überzeugungen entspricht.

Es geht mir darum, zweierlei grundsätzlich mal klar zu stellen:

1. Warum wir es ablehnen, Taxi zu fahren.
Wir stammen aus einer anderen Zeit als du. Man sagt „zu meiner Zeit“ und meint damit die Periode im Leben, in welcher man seine Wertvorstellungen erfahren und gefestigt hat, in welcher man versuchte, so gut es ging, sein Leben selbst zu bestimmen. Diese Zeit war, epochal gesehen, eine Zeit des Krieges, des Mangels, des Sparens, der Entbehrungen und des Verzichts. Wir hatten damals keinen Spaß, so wie die jungen Leute heutzutage. Wir kannten nur Arbeit, Gehorsam, Bescheidenheit und Unterordnung. Die Jugend hatte den Erwachsenen zu folgen, sie wurde nicht gefragt. Aber jetzt schweife ich schon ab. Damals half man sich selbst, und wo das nicht ging, untereinander. Bezahlte Dienstsleistungen waren undenkbar, wenn es sich nicht gerade um das Bestellen des Dreschkastens handelte oder das Mahlen des Korns zu Mehl. Wir hatten auch keine weit entfernt liegenden Ziele. Wo wir hin wollten, gingen wir zu Fuß. Bedenke, selbst ein Fahrrad war zumindest den Frauen unserer Generation versagt. So, wie wir kein Brot wegwerfen können, weil wir die Not kennen und Brot etwas Heiliges ist, können wir also auch kein Geld wegwerfen, wozu nach unserem Empfinden das Taxi Fahren gehört. Zu einem hohen Preis, für dessen Gegenwert man viele Brote kaufen könnte, ist das Taxigeld in wenigen Minuten vergeudet. Es zählt zu den Sünden. Ich bitte dich also, Rücksicht auf mich zu nehmen, so wie es selbstverständlich ist, Rücksicht auf die Empfindungen aller Gläubigen zu nehmen. Ich kann nicht anders. Wer sonst als die nächsten Angehörigen – also ihr, meine glücklich Auto fahrenden gesunden Kinder – solltet mich, die wie gesagt gegenseitige Hilfe von Kindheit an gewohnt ist, zu den wenigen außer Haus stattfindenden und im Übrigen nur nach Dringlichkeit bestimmten Terminen fahren? Denn gehen kann ich ja nicht mehr! Glaub‘ mir – ich verlange nicht viel von meinen Kindern. Auf meine Art versuche ich ja auch, wo ich noch kann, euch zu helfen: Mit großzügigen Geldzuwendungen an den Feier- Geburts- und Namenstagen, mit Erb-Auszahlungen schon vor Zeiten, mit Gemüsegaben, und einer jederzeit offenen Haustür, ihr seid stets alle willkommen. Denk auch daran: Der Zustand wird nicht mehr ewig dauern, ich bin dein arme, kranke alte Mutter.

2. Warum ich scheinbar immer im Mittelpunkt stehen will
Eines muss ich dazu klar stellen: Ich will gar nicht im Mittelpunkt stehen. Es gibt Menschen, die sind sich selbst genug, sie können sich beschäftigen, in Welten versinken, Tun und Machen. Ich hingegen bin ein kontemplativer Mensch, ich denke viel, ich wünsche, hoffe, bete, zweifle und empfinde Einsamkeit. Objektiv gesehen, mag das anders ausschauen. Zwar bekomme ich Besuch, habe einen lieben, rüstigen und allseits geachteten Mann, komme auch mal außer Haus, aber stehe ich nicht trotzdem immer abseits? Gehen die Gesprächsthemen nicht immer an mir vorbei? Scheint es nicht, dass meistens alles andere wichtiger ist, als mein schweres Schicksal? Und so hoffe ich von mal zu mal, wenn sich die Gelegenheit bietet, dass mir Gäste unseres Hauses Ablenkung und Teilhabe an anderen Welten ermöglichen. Aber – Besuch ins Haus zu laden, hat auch seine Kehrseite: Man hat das Haus voll fremder Leute, kann sie höflicherweise nicht wegschicken, wenn es anstrengend wird, hat auch die Organisation nicht mehr in der Hand und muss sich mit vielem abfinden, was man so nicht gewollt hat. Da kann es passieren, dass wieder die Traurigkeit über mich kommt und ich nicht weiß, ob der Besuch besser nicht gekommen wäre oder doch.
Ach, oh weh.

In Kindesliebe, deine Mutter

Samstag, 28. Juli 2001 (Libori-Beginn)

(Keine Originalaufzeichnung, Schreiben 2009 aus der Erinnerung)

Wir fuhren über Blois, Le Mans, Caen nach St. Laurent am Omaha Beach, um am Weltgeschichte geschrieben habenden Ort die dort Jahr für Jahr weilende Familie Rolf und Magdalena Ulker samt Kindern zu besuchen. Wir übernachteten im Hotel Casino (siehe Hotelgeschichten) im benachbarten Vierville und gingen abends schick essen: Wie immer in der Bretterbude gegenüber ihrem Haus. Sonntag, 29. Juli gings endgültig heim. So oder ähnlich.