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Lieber Erwin !

Versprochen. Hier kommt der letzte offene Brief – in diesem Jahr, oder so. Ich habe lange überlegt, ob überhaupt, denn diesmal wird es sehr persönlich. Und die Fotos nur scherenschnittig.

Jetzt ist also der ideale Zeitpunkt, um abzubrechen. Bitte nicht weiterlesen.

Ganz zutreffend ist dir der Kleidungsstil „unseres Bürgermeisters“ aufgefallen. In Anführungszeichen, weil er namentlich nicht genannt wird. Bei aller Sympathie und Nettigkeit – mir bleibt sein Stil fremd. Der mittelblaue Anzug – na ja, nix Dolles. Und der Beige erst – was soll ich sagen. Meinen letzen beigen Anzug habe ich 1962 dem Roten Kreuz gespendet. Nur:

a) Uns (die Öffentlichkeit) geht das klar nichts an.

b) Wer sollte es ihm sagen ? Seine Familie ? Hochrangige Parteifreunde ? Merz/Laschet/Röttgen mischen sich nicht ein, solange er nicht selbst CDU-Vorsitzender oder Bundeskanzler werden will. Der Papst ? Franziskus spreche ich jedes Modeinteresse ab und Benedikt – ja, in der Zeit, als er noch ein kleiner Kurienkardinal war und dem römischen Lifestyle frönte, der hätte was bewirken können. Jetzt gibt er keine Audienzen mehr.

c) Wer im Glashaus sitzt ! Ich selbst bin bekennenderweise modemäßig der größte Schlunz.

In ganz anderem Glanz strahlt Bürgermeisterkollege Michael Berens in Hövelhof. Egal, ob in kariertem Hemd und Holzschuhen als Sineputker-Akkordeonist oder im dunkelblauen Anzug – er nimmt stets eine präsidiale Haltung ein. Mich erinnert er übrigens an Wowie (amt. 2001–2014), der immer cool blieb und mit seinen Bonmots die Landschaft deutscher Sinnsprüche dauerhaft um gleich 2 alltagstauglich einsetzbare Universalphrasen erweitert hat:

  • … und das ist auch gut so !
  • … arm aber sexy !

Zu deinem literarischen Stammpersonal gehören „unser Erzbischof“ und „Drewermann“. Natürlich erwartest du, dass man sich unter diesen Bezeichnungen Erzbischof Hans-Josef Becker sowie den Kirchenkritiker Eugen Drewermann vorstellt, aber festnageln kann man dich darauf nicht. Denn: wenn du diese Namen vollständig angeben würdest, wären deine Stories keine Literatur mehr, sondern Fake News. Zur Not bzw. formal soll man sich fragen „Was für ein Erzbischof?“ Antwort: irgend ein abstrakter Prototyp von Erzbischof eben. Wie im Märchen: Der König (welcher? Regentschaft von bis?) hatte zwei Töchter. Punkt. Sofort baut man in der Vorstellung ein beliebiges Königreich zusammen. Vorne Felder mit Bauern, hinten die Burg, die Töchter zwischen Waldrand und Brunnen, ein schneidiger Prinz im heiratsfähigen Alter kommt von links, um sich die hässliche der beiden Töchter abzugreifen, denn er ahnt, dass die hübsche … undsoweiter. Für die Augsburger Puppenkiste erfand Michael Ende „Alfons den Viertelvorzwölften“. Dafür muss man aber auch einen ganz speziellen Humor mitbringen.

Kommen wir zu Drewermann. Natürlich gibt es nicht nur den einen, obwohl sich die ersten 10 Seiten Google-Ergebnisse nur auf ihn fokussieren. Als er Anfang der 1990er Jahre als Pastor rausflog und seine Karriere als Ketzer begann, hieß es, er habe keinen Fernseher und kein Telefon, man könne ihm aber einen Brief schreiben. Von dieser Möglichkeit habe ich nie Gebrauch gemacht. Das Internet gab es damals noch nicht, vermutlich hätte er auch darum einen weiten Bogen geschlagen und selbiges für des Teufels gehalten, unter der Voraussetzung dass die Existenz des Teufels in seinem Weltbild Anerkennung findet. In letzter Zeit sehe ihn öfter in der Nähe seines letztbekannten Verbannungsortes, genauer gesagt am Ufer der Maspernpader, bekleidet mit eben jenem Trainingsanzug, den uns vorzustellen du in deinen am 28.11.2020 veröffentlichten GEDANKEN aufforderst, und er hat doch tatsächlich ein Handy in der Hand und telefoniert! Für mich platzte in Echtzeit ein Mythos. Zwar konnte ich so schnell kein Smartphone ausmachen und glaube, es handelte sich nur um ein Nokia-Kinderhandy aus dem Jahr 2003, aber ich frage mich: Warum tut er uns das an ? Warum hier und nicht vor einer gigantischen Bücherwand ? Das letzte hochrangige Vorbild für Handy-Verweigerer gibt auf ? Nein, er will gesehen werden ! Er entmythisiert sich.

Darum lieber noch mal zum Erzbischof. Ich mag ihn als ruhenden Pol in den katholischen Bedrängnissen der letzten Zeit. Und obwohl ich immer darauf warte, dass er zu Libori von seinen eigenen Worten vor Ergriffenheit an zu heulen fängt, bleibt er souverän und professionell. Auf seine Art so cool wie Wowie. Richtig leid tat mir mal, als ich ihn bei Fleischerei Müller im Schildern traf. Papst Franziskus, dessen Markenkern die große Bescheidenheit ist, zur der er auch in der katholischen Kirche drängt, und vermutlich in einem päpstlichen Dekret verlangt hat „Bischöfe, kauft eure Wurst selbst“ ist bei HJB auf offene Ohren gestoßen. Bei Müller begrüßte ihn die Verkäuferin (sie ist dort nicht mehr, sondern woanders, ich weiß auch wo) gutmeinend, aber leider respektlos mit „Herr Becker, was darf’s denn sein?“ Sollte wohl persönlich klingen. Sehr, sehr feige und erschrocken blieb ich stumm. Richtig gewesen aber wäre, wenn ich wie Kommissarin Sophie Haas in einer Folge der ersten Staffel mit beiden Händen auf die Wursttheke geschlagen hätte mit den Worten: „Für Sie immer noch „Exzellenz!“