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Lieber Erwin !

Am frühen Morgen des Samstags, 23. Mai wurde ich beim Frühstück, einem Butterbrot mit Rüberkraut plus einer Tasse guten Bohnenkaffees, anlässlich des Studiums der gedruckten Ausgabe (!) der Neuen Westfälischen (NW) darauf aufmerksam gemacht, dass du im 4. und 5. Absatz deiner Kolumne GROSCHES GEDANKEN meine Fotos der derzeitigen Ausstellung im Stadtmuseum Paderborn lobend erwähnst und dabei speziell das Foto vom Bahnhofsgebäude Paderborn aus den 1980er Jahren in den Blick nimmst, weil der Bahnhof am 23.5. dein Tagesthema ist.

Dafür möchte ich dir von Herzen danken, es tut so gut. Wie auch deine Texte und Beiträge sowieso und immer gut tun. Du vermagst es mit viel Liebe, die kleinen Dinge in den Fokus zu setzen, Vergessenes und Unscheinbares bewusst zu machen. Du hilfst, Bedrohtes zu bewahren, und wenn es nur in der Erinnerung ist. Es entfaltet sich ein fantasievolles, unkompliziertes, wenn nicht sogar puppenstubiges Weltbild, das man sich (zurück-) ersehnt. Wer will, kann auch Kritik herauslesen, aber äußerst konstruktive ! Niemals vergessen wir, wie wir dich mal live und unmittelbar im Alltag erlebt haben; abseits von der Bühne, der Presse, der Kamera. Du warst vor uns „dranne“, im Nordflügel der weitläufigen Geschäftsresidenz von Schinken Sander im Niemandsland zwischen Marien- und Rathausplatz. Wir deuteten stumm und ehrfürchtig-ergriffen mit dem Zeigefinger auf dich, den Promi, und vernahmen staunend deine Antwort auf die Frage hin von Schinken Sander bzw. eher der Dame an seiner Seite (er selbst war als Store Manager für den direkten Kundenkontakt nur selten zuständig), was es denn sein dürfe?: „Geben Sie mir“ so du wörtlich, „nur etwas [hm-hm-hm], dann bin ich schon zufrieden.“ Schöner kann man es nicht sagen. Der Satz wurde in unserem familiären Sprachgebrauch zum geflügelten Wort. Das [hm-hm-hm] muss ich hier aus Datenschutzgründen unterdrücken, denn ich möchte deine zufällig aufgeschnappten Ess- und Kaufgewohnheiten nicht offenlegen, soweit diese über den mythologisierten Apfelkuchen bei Weyher hinausgehen. Schinken Sander habe ich übrigens noch vorletzte Woche in der Stadt gesehen. Darf ich noch etwas ausholen ? Danke. Wir kauften Woche für Woche 100 Gramm Holsteiner Mettwurst, und Schinken Sander ließ sich nichts anmerken. 15 Jahre lang sah er uns jeden Samstag zum ersten Mal. Wo war ich stehengeblieben ?

Ach ja. Mit dem Thema Bahnhof (-sgebäude) schneidest du ein Herzensthema vieler Paderborn an, natürlich sehe ich das auch so, und ich habe mich seit einiger Zeit mit meinen Mitteln, also mit der Fotografie, dem Gesamtkomplex Bahnhof gewidmet: Die Bahnhofstraße, das Umfeld, das Gebäude und die Bahnanlage. Mein ältestes Bahnhofsfoto ist von ca. 1974: Tante Irmgard kommt mit dem Interzonenzug aus Berlin an. Der Koffer, den sie hält, gehörte später zur Erbmasse und gelangte in meine Hände. Wenn man das Bild analysiert, stellt man fest, dass sie vom Interzonenzug wohl spätestens in Altenbeken in den „Schienenbus“ VT98 umgestiegen sein muss. Auf meinem Foto von 2007 ist noch die von dir erwähnte „goldene“ Uhr zu sehen (viel Blech, wenig Gold), von der später nur ein Staubschatten übrig blieb, bis man an der Stelle das DB-Logo angebracht hat. Ja, das waren goldene Zeiten. Du schreibst, der Abriss sei verschoben, aber beschlossen. Nur verschoben ? Du willst doch kein Pessimist sein ? Denk an das Stadthaus 2.0 am Marienplatz. Dessen Bau wurde schon zweimal beschlossen, aber jetzt sind alle froh, in Corona einen plausiblen Grund gefunden zu haben, dass alles beim Alten bleiben kann. Der neue Bahnhof ist der nächste Kandidat auf der Liste „Brauchen-wir-nicht“. Tipp zum Hoffnungschöpfen: Beherzige bitte die Worte von Papst Johannes Paul II. am 12.6.1996 bei seinem Gig in der Senne.  JPII sagte „Chabt Muhtt! Verrrzahkt nicht!“ (das ch in „nicht“ bitte aussprechen wie in „Apfelkuchen“). Sehr visionär meinte der Heilige Vater vermutlich den Bahnhof und wir wollen seinen Rat gern befolgen.

Jetzt wieder du in der NW am 23.5.2020: „Erinnern Sie sich noch an […] und die riesige Werbetafel von Klingenthal über dem Haupteingang ?“ Lieber Erwin, da gibt es nichts zu erinnern, die Tafel hängt noch, und wollen wir die wirklich schön finden ? Da musst selbst du dich zusammenreissen. Ich habe null Ahnung, wie Werbung wirkt, aber bei der Klingenthal-Tafel stelle ich mir das so vor: Abreisende kommen zu Bahnhof, ihr Blick wird magisch auf das Schild gelenkt, sie lesen das in der 1970er-Jahre Letraset Rubbelbuchstaben-Typo „Pump“ gestaltete „Klingenthal / Vielfalt der Mode“ und brechen ihr Reisevorhaben spontan ab, weil sie nun überzeugt nur noch eines wollen: zu Klingenthal. Ankommende hingegen stolpern orientierungslos aus dem Gebäude auf den Vorplatz, blicken sich noch mal nichtsahnend um, weil sie den bildschönen Bahnhof auch in seiner äußeren Pracht wahrnehmen möchten, und dann: die wirkmächtige Klingenthal-Werbung durchbohrt sie dabei, löst augenblicklich suggestiv/manipulativ einen Mode-Kaufrausch aus und macht Vorhaben wie Museumsbesuche, Dombesichtigungen inklusive Dreihasenfenster, dubiöse Business-Termine oder öde Verwandtenbesuche vergessen.

Zum Schluss, wie soll es anders sein, kommen on Top noch meine schönsten Fotos vom Paderborner Bahnhof und seinem Umfeld und als Interpretationshilfe mein Leitspruch: „Alles hat seine Zeit“.

P.S.

Wie der alte Bahnhof „vor dem Krieg“ aussah, kennen wir aus Büchern und von Postkarten. Der „neue“ Bahnhof ist von 1952. Wie aber sah er dazwischen aus ? Stadtarchiv, bitte melden.