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Lieber Erwin,
Deine wöchentliche Kolumne ist stets inspierend, und manchmal juckt es mich, auf Stichworte zu reagieren, sie aus dem eigenen Erfahrungsschatz zu kommentieren und Assoziationen auszuschmücken. So ca. um den 10. Oktober rum, sprangen mich die von dir gesetzten Begriffe „Vermissen“, „Straßenbahn“ und „Josef Rikus“ an. Da muss ich näher drauf eingehen.
Zunächst die schnell abzuhakende Straßenbahn, in diesem Fall die Paderborner Straßenbahn der Marke PESAG, welcher man sich hervorragend nähern kann mittels des Buches – es befindet sich doch sicher auch in deinem Bücherkonvolut, lieber Erwin – „Die PESAG: Straßenbahnen zwischen Paderborn, Detmold und Blomberg“, Verlag Kenning 2012, mit tollen Fotos von Straßenbahn-Wagen, die nicht erst bei ihrem Betriebsende 1963 komplett out of time waren, sondern seit jeher. Wir hatten die Linie 1 direkt vor unserer Heimstatt (Amt Schloss Neuhaus, Vatter Hausmeister, Gebäude heute Polizei), zu Libori fuhr sie mit 3 Wagen. Nur Dampflok-Romantik ist schlimmer. In anderen Städten benutze ich sie durchaus und wundere mich immer wieder, was Straßenbahnfahren auch heute noch für ein unkomfortables Gerumpel ist. Mein Revier : das Ruhrgebiet.
Beim „Vermissen“ komme ich gedanklich nicht so recht auf die Spur. Soll man es weit sehen – und die eigene Jugend, die früh verstorbene Urgroßmutter oder das gesunde Landklima mit meterhohem Schnee von November bis April vermissen, also Dinge, die nie wiederkommen, oder aber nur Verluste und Entbehrungen, bei denen noch Chancen bestehen: Das seit vorgestern verschwundene USB-Kabel, die im Sommer nicht ausgestrahlte Heute-Show oder die berühmte Rikus-Fassade, die vermutlich nicht entsorgt wurde, sondern dem Blick der Öffentlichkeit verborgen ihrer Rehabilitierung harrt.
Womit wir bei Josef Rikus wären. Im Jahr 2000 durfte ich für das Diözesanmuseum den Ausstellungskatalog gestalten „Figur im Holz · Das Frühwerk von Josef Rikus und sein Lehrer Karl Knappe“ (viele beschwerten sich, es müsse „seinem“ Lehrer heißen, aber nein, alles gut). Witwe Anneliese lud mich zeitnah zu einem Dankeschön-Essen ein, aber an dem Tag hatte ich einen Fahrradunfall mit wochenlangem Spital-Aufenthalt. Ich habe sie nie kennengelernt, „ihn“ (†1989) übrigens auch nicht. Am beeindruckendsten fand ich damals die beiden Portrait-Fotos, die ich hier in der Galerie zusammen mit meinen Lieblings-Exponaten der Ausstellung wiedergeben möchte. Schau dir dieses ernste, grundehrliche und friedvolle Gesicht an, Erwin. Aus heutiger Perspektive anrührend, durchdringend bis erschütternd. Man denkt sofort an Wolfgang Borchert mit seinem Theater im Hafen zu Münster oder Heinrich Böll, der auf dem Rhein von Eischscholle zu Eischolle sprang, seinerzeit im harten Winter 1947. Anneliese selbst hat die Bilder 1950 in professioneller Qualität geschaffen, nicht by-the-way, sondern mit Ruhe und Vorbereitung. Sie kann nur vom Fach gewesen sein, vom fotografischen. Das Foto auf Katalogseite 11 zeigt Josef Rikus mit einem Attribut, das mich wirklich aufwachen ließ: eine Pfeife. Er hält sie rauchbereit in der rechten Hand !
Was wissen wir, ohne bei Google nachzuschlagen, über das Pfeife-Rauchen ? Nichts, denn es ist aus unserer Wirklichkeit verschwunden, durch Einsicht der Gemeinde oder Ächtung. Ich kann mich nicht in das Lebensgefühl der Pfeifenraucher-Blütezeit-Generation hineinversetzen. War es der Tabak-Genuss ? War es eine Männlichkeitsattitüde ? Die Insel-bildende Aura, welche den Raucher auf sich zurückwirft, auf dass er besser denken kann (Commissaire Maigret) ? Eine Sozialhandlung, um feminine Einflusssphären auf Distanz zu halten, gleichzeitig aber Bewunderung einzufahren ? Wann immer ich einen Pfeifenraucher gewahr wurde, musste ich ihn, so eine Kamera zur Hand war, diskret fotografieren. Es konnte der letzte sein.
Und tatsächlich: Meine Endzeit-Begegnung liegt seit 2012 zurück. In Berlin liegt am Fuße der Hochbahn eine Gasse namens Else Ury-Bogen, durch die sich die Touristen, welche sich nicht in den Osten trauen, sondern sich nur in West-Berlin heimisch fühlen und sich Richtung Savigny-Platz wälzen. Du kennst die Gegend bestimmt, und erinnerst dich an das halbschöne Buchgeschäft mit edlen bzw. langweiligen Bildbänden zu Kunst, Fotografie und Architektur in einem der Bögen unter der S-Bahn bzw. Fernbahn, wie man in Berlin sagt. Dort vernahm ich verdächtigen Pfeifentabaksgeruch, und zog instinktiv die Kamera raus. Da saß er. Ein Hardcore-Raucher mit Ledertasche und Auswahl weiterer Pfeifen und edler Tabak-Sorten. Es ging ihm, wie wohl allen seinen Gesinnungsfreunden der Spätepoche, nicht um den Genuss, sondern darum, in einem Spiel, dessen goldene Jahre längst vorbei waren, den Wichtigen zu zelebrieren und die Umgebung zu nerven, ohne dass man ihm etwas illegitimes vorwerfen konnte. Diese Rolle hat heute eine andere Art von Zeitgenossen übernommen: Pseudo-autistische Liegeradfahrer, welche pfeilschnell aus dem Nichts auftauchen und sonnenbebrillt, grimmig-unerbittlich nicht rechts-und-links-schauend, einem haarscharf den Weg schneiden. Vorschriftsmäßig mit Hut.
Nochmal zurück zu Rikus: Ich will gar nicht auf sein Spätwerk eingehen, auf seine Ära der Betonklötzchen mit runden Ecken, oder auf die wunderbare sehens- und betenswerte brutalistische Kirche Johannes XXIII in Köln nach seinem Entwurf. Grandios, führt aber jetzt zu weit. Zu meinen Lieblingsobjekten der Ausstellung in 2000 gehörte eine Skulptur mit dem Titel „Roggenmuhme“. Wem das nichts sagt, schlägt nach bei Wikipedia (oder fragt, theoretisch, dich):
„Die Roggenmuhme ist ein weiblicher Korndämon und Kinderschreck der deutschen Sage, der sich im Feld und Acker aufhält. Die Roggenmuhme geht im Feld auf und ab, ernährt sich vom Korn und reißt die unreifen Ähren aus.“
Da könnte man glatt einen Film drüber drehen. Unglaublich, mit was sich der Bildhauer befasst hat. Ich hatte das Faszinosum Roggenmuhme damals sofort vertont, aber das Audio file ist verschwunden. Ha, ich vermisse es. Hier daher exklusiv eine ganz frische Aufnahme von gestern: