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Unterwegs

2003 · Rügen geteilt

By 22. August 2003No Comments
1 Woche Sellin, 1 Woche Lauterbach

Prolog

Den Prolog können wir uns fast sparen, denn er fällt fast aus wie immer: Aufgebrochen in allergrößter Hektik, sogar einen Tag verschoben wegen dringend zu Ende zu bringender Arbeiten. Wir hatten uns viel vorgenommen: Ein ausgedehntes touristisches Rahmenprogramm auf der Hinfahrt. Jede Menge Radtouren. Schreiben, schreiben, schreiben: Die komplette Liste aller Urläube. Die Zusammenfassung der bisherigen Karriere. Literarisches, z.B. erfundene Urlaubsgeschichten. Ausbau der Home Page. Erlernen von Excel. Erledigung von mitgenommenen Projekten. Diesmal wiederum nicht akut: Der Abwurf von Steuererklärungen beim Finanzamt als erste Amtshandlung der Hinfahrt, denn Steuertermin ist der 10. Juli, und wir fuhren am 10. August, ganz entspannt, denn Libori hatten wir dies Mal zu Hause erlebt, es lag nichts weiter an, was die Fahrt unter das Vorzeichen eines schlechten Gewissens stellte. Auch die Page 09/2003 war noch nicht im Handel, sondern wird zentraler Akt des Stralsund-Besuchs werden. Der Sommer 2003 war der heißeste bisher und sehr dürr. Vor allem in Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern waren fast alle Bäume am Vertrocknen und Verdorren, was uns ziemlich mit Sorge erfüllte. Doch kein Prolog ohne die obligatorische, traditionelle Würdigung des Oppas, der daheim die pflegerischen Aufgaben übernommen hat und stets als der erste Leser des Tagebuchs verstanden wurde und wird, auch wenn sich in vereinzelten Prologen Kritik an der Rezeption der Tagebücher geübt wurde. Hier nun zur Abwechslung einige Anrede- und Bezeichnungsvarianten:

Grundform:    Oppa, der
Abkürzung:    AKO (armer kleiner Oppa)
Abkürzung, englisch:    PLO (Poor little Oppa)
Englisch, Vollversion:    –
Französisch 1:    L’Oppe (der Oppa)
Französisch 2:    L’Opa (Aussprach etwa wie: hl’ Oh – pah-ch
Spanisch:    El Ueppo
Griechisch:    ΟΠΑΣ
Rheinisch:    de Opp (wie: de Jupp, de Aap)
Lateinisch    Oppum opalis (der oppische Oppa, bzw. wie
Krefeld-Oppum)
westfälisch, liebevoll betüttelnd:    Öppeken
mitleidig umsorgend:    Öppelein
akkusativiert:    Oppen

Sonntag, 10. August 2003
Start 8.50 Uhr, erste Stop-Station: Ratzeburg an der Ratze. Die Stadt ist weltberühmt für das mit acht Mann Besatzung ins Rennen geschickte Ruderboot, welches auf dem See trainiert. Brigitte hatten davon noch nie gehört und bezweifelte spontan die Existenz. Am Seeufer, nahe des Rathauses, den Dom auf der Dominsel in Sichtweite, legten wir ein geplantes Picknick ein: Bubu und gek Ei und genossen die fantastische freizeitliche Daueratmosphäre, in der sich Ratzeburg befindet. Die nördliche und die südliche Seehälfte sind durch einen baumbestandenen Kanal verbunden. Böötchen und Wasser-Radler zirkulierten hin und her. Das Wasserfahrad ist ein lenkbares Schlauchboot mit aufgebocktem fahrradähnlichen Sitz-Trampelgestell und die Attraktion. Die zumeist übergewichtigen Wasserradler erinnerten stark an Rad fahrende Frösche. Als wir genug hatten, brachen wir wieder auf, nicht ohne kurz den südlichen Teil des Sees aufzusuchen, wo es fast noch netter und noch picknickiger zuging. Ein stilreine 60er-Jahre Seeuferkneipe lud zum Durchqueren ein (vielleicht hätten sie ja ein Eis, z.B. Mövenpick Panacotta-Orange zum Kaufen gehabt, hatten sie aber nicht. Einer von ca. 50 Tischen war besetzt. Ambient-Music tönte aus nicht sichtbaren Lautsprechern. Das Durchschnittsalter der Gäste – wie gesagt, ein Tisch – lag zwischen 80 und 90. Es war so furchtbar, dass wir auf das Eis verzichteten und zum Auto zurückgingen. Kurze Zeit später waren wir deutlich erkennbar im Osten. Betonplatten-Wege, stillgelegte, verfallende LPGs mit ihren typischen Peitschenmast-Beleuchtungen auf den geleerten Lagerplätzen für Rüben und den hohen Kaminen mit Feuerleiter neben den Baracken mit dreiflügeligen Fenstern verrieten dies. Die Autobahn A20 ging ein Teilstück weiter als Ostern 2002, wir fuhren bis zum Ende bei Sanitz, glaubten der optimistisch redigierten Landkarte, die nur eine kurze Unterbrechung andeutete, und danach ein weiteres fertiges Teilstück ankündigte, das natürlich noch nicht mal angefangen war. Da wir immer für eine gute Abkürzung zu haben sind, landeten wir schließlich auf einer ungeteerten Sandpiste, die sich im Gebüsch verlief. Anwohner, die wir fragten, ob dies die Straße von Paderborn nach Rügen sei, konnten keine eindeutige Aussage dazu machen (Wessi-Hasser?), so dass wir mit viel Improvisation und gutem Willen den Osten von hinten noch besser kennen lernten, dabei aber doch irgendwann bei Stralsund ohne jeden Stau den Rügendamm überquerten. Wenn nur die Dürre nicht wäre. Schli-hi-himm!. Unser Ziel war Lauterbach, südlich von Putbus. Es machte sich bei der glorreichen Einfahrt schon recht gut, fast wie erwartet, aber „mehr los“. Eine gute Mischung aus touristischer Umtriebigkeit, Verpenntheit, Improvisation und sichtbarer DDR-Vergangenheit. Schockierend war die Nachricht bei der Beauftragten für die Schlüsselübergabe im Hotel Clemens, die uns sagte: „Sie kommen nach Sellin.“ Warum nicht gleich: „Sie kommen nach Augustdorf, Sie kommen nach Bergen-Hohne, Sie kommen nach Auschwitz.“ Dazu tischte sie uns eine verworrene Verwechslungsgeschichte um drei Ecken auf, warum wir nach Sellin „kommen“. In Sellin trafen wir an der angegebenen Adresse, der Villa Seeblick, einem großen Klotz aus DDR-Zeiten bei dem die Plattenbauelemente hinter einer vorgehängten Rauputzfassade versteckt waren, weitgehend natürlich ohne Seeblick, mit nachträglich drangestellten Balkonen schließlich auf den bereits vom Telefon als üblen Muffkopf bekannten Jens Kühn, den Drahtzieher des Ganzen. Er variierte die Verwechslungsstory und gab sich mit knüseligen Worten versuchsweise scheinbar pragmatisch/zerknirscht. Er wolle am nächsten Tag, aber spätestens nächste Woche, ein Preisnachlass läge eventuell auch drin und überhaupt. Brigitte täuschte aus strategischen Gründen einen Heulkrampf vor. Der Dr. sagte gar nichts, er hatte für alle und jeden volles Verständnis. Für zunächst eine Nacht willigten wir schließlich ein, brachten etwas Gepäck in das zugewiesene Einraumappartment, wo das Doppelbett in der Mitte angeordnet war zwischen Sitzecke und der Küchenzeile, welche etwa Wohnmobil-Größe hatte. Vom Balkon sah man mit Halsverrenkungen 10 cm Ostsee. Fahrräder, Fresstasche, Literaturkoffer blieben im Auto. Aus Protest verweigerten wir auch das Fotografieren, sonst einer der Hauptgründe, überhaupt in Urlaub zu fahren. Das Haus lag in unmittelbarer Nähe zur Wilhelmstraße, der Prachtavenue von Sellin mit vielen restaurierten oder neu gebauten Villen im Bäderstil, unten drin Kneipen und Tinneff-Läden. Viel Volk rannte rum, aber schließlich war Sonntag. Wir machten dick angezogen einen Strandspaziergang und trafen viele völlig nackte Leute die dem alten DDR-Volkssport FKK frönten und nicht froren, obwohl die Temperatur nur noch bei ca. 28 Grad lag. Beim Cliff-Hotel, einem Bonzenpalast aus alten Zeiten, drehten wir um zurück zum Ort. Weil wir hungrig wurden, entschieden wir uns kurzerhand für eine x-beliebige Pizzeria. Das Wernesgrüner Pils 0,3 war fast am Kochen und schmeckte entsprechend. Wir „bummelten“ noch etwas in einem Neubaugebiet und gelangten über die Wilhelmstraße ins Heim zurück. In den Kneipen war schwer was los. Das Restaurant mit „böhmischen Spezialitäten“ offerierte böhmisches Bier auch zum Mitnehmen. Davon angelockt, fragten wir nach und hörten, dass zwei Liter die Mindestmenge seien plus Pfand für den Kübel. Also kein böhmisches Bier als Nachttrunk. Der Renner beim Böhmer ist natürlich der böhmische Kümmelbraten, den wir schon mal abonniert haben.
An der Seebrücke war ein kleiner Auflauf zustande gekommen weil zwei Bullen mit Fernrohr und Sprechfunk beobachteten, wie draußen auf der Ostsee der Seenotrettungskreuzer irgendwelche Idioten am retten war. Auch wir kuckten und bedauerten, dass wir unser Fernrohr nebst Fotoausrüstung aus Protest gegen die Zwangseinquartierung im Auto liegen gelassen hatten.

Montag, 11. August 2003
Die gestern noch verkündete Aussicht auf Umzug in ein neues Appartmenthaus in Lauterbach zerschlug sich, und nach weiteren preislichen Zugeständnissen – die allerdings erst noch eingelöst werden müssen – zeigten wir uns bereit, für diese Woche in Sellin zu bleiben. Die Alternative wäre die vorzeitige Heimfahrt gewesen mit zweifelhaften Aussichten auf finanzielle Entschädigung. Wir holten noch mehr Gepäck in den dritten Stock, lernten flüchtig die Nachbarn aus Heilbronn kennen, die gleich mit ausgeliehenem Werkzeug das Zusammensetzen der Fahrräder ermöglichten, denn unser Werkzeug war daheim in Friedrichs Garage verblieben (Im Nachhinein eine falsche Annahme, denn nach Rückkehr fand sich das Werkzeug im Staufach hinten links). Eine Radtour über Baabe nach Göhren stand als Tagesprogramm an. Es war wunderbar warm, und wir waren noch wärmer angezogen, zumindest manche. In Baabe, eine Hauptstraße als Boulevard mit ein paar Neben-Sackgassen, war alles neu, die Kiefern dort und unterwegs untermauerten die Illusion, dass wir nicht mitten im Baltikum, sondern im tiefen, tiefen Süden unterwegs waren. Statt am Strand, wo man vor lauter Nackten nicht wusste, wo man hinkucken sollte, sondern durch den Wald ging es weiter nach Göhren. Wie schon so oft in frühreren Urlauben, erinnerte uns Vieles an Manches. Von 5.30 bis 23.00 Uhr ist in Südostrügen das Pfeifen und Heulen der Dampflok allgegenwärtig. Die Strecke wird 11 mal am Tag rauf und wieder runtergedampft. Auch wir wollen uns dem nicht verschließen und demnächst ein Teilstück mitfahren. Die Radtour hatte im Verlauf mehrere Bergwertungen zu bieten, es gab mehr Höhenmeter zu machen als vermutet. Auch Göhren war überwiegend nagelneu, durchsetzt mit ein paar restaurierten Altbauten. Verglichen mit Sellin und Baabe die freundlichste und netteste Erscheinung. Es liegt kurz vor dem Ende einer gebirgigen Landzunge mit zwei Stränden, einem nach Osten und einem nach Süden. Die obligatorische Einkehr bescherte uns Kaffee und Kuchen. Danach erkundeten wir den Ort und bereuten schon fast, aus Protest nicht zu fotografieren. Am Bahnhof gab es die Abfahrt der Dampflok zu bewundern, leichte Altenbekener Atmosphäre kam auf. Dann ging es zurück. Am Selliner Südstrand war der Bär los. Mit den Fahrrädern war fast kein Durchkommen. Die 20%tige Steigung zum Berg rauf schafften wir natürlich ohne Absteigen. Aus Gründen der Sparsamkeit verzichteten wir auf Essen gehen und machten zu Hause Schnitten aus wochen-altem mitgebrachtem Brot. Wie hieß es noch in dem Wandspruch in der Bäckerei Blome? Altes Brot ist nicht hart, kein Brot, das ist hart. Worauf Rolf Ulker immer konterte: Blomen Brot macht Leute tot. Nach einer gebührenden Ruhephase ging es noch mal die Wilhelmstraße rauf und runter, wo wir eine funktionierende Telefonzelle suchten, aber keine fanden. So müssen wir für das anstehende Oppa-Telefonat demnächst eine auswärtige Zelle suchen. Vor einer Kneipe trat ein einzelner Straßen-Live-Musiker auf, der mit einer Zwölf-Saiten-Gitarre und jeder Menge Elektronik sein Repertoire von den Gipsy Kings über Stones, Hendrix und Lionel Richie bis Commodors und Jennifer Lopez alles drauf hatte. Wir kehrten beim Mexikaner ein, wo der Strom ausgefallen war und es deshalb bei Kerzenlicht angenehm ruhig blieb. Das dortige Wernesgrüner hatte die richtige Temperatur.

Dienstag, 12. August 2003
Heute haben wir ganz, ganz lange geschlafen, gelesen, und zu ruhen geruht. Das Frühstück begann um 11.30 Uhr mit dem bereits beschriebenen, leckeren Brot, eher geraspelt als gesägt mit den Messern aus dem Messerblock in Kirmes-Qualität und duftendem Kaffee auf unserem Balkönlein. Ein kleines Handicap bei allen Mahlzeiten stellen Höhe und Standvermögen des Campingtisches dar. Gegen 15 Uhr brachen wir zu einer Radtour durch den Granitzer Wald nach Binz auf. Binz ist, wie schon Ostern 2002 beschrieben, das Westerland Rügens, nur schöner. An dieser Stelle wollen wir ein paar Ortsnamen anglizieren: Binz = Bince, Göhren = Gurry, Sellin = Sellin’ (von verkaufend, das Gerundium), Baabe = Babe oder Baby, Putbus ist bereits englisch). Es ging tüchtig rauf und runter mit weiteren Erschwernissen wie Lochbetonpisten, scharfsteiniger Schotteroberfläche oder weitläufig ausbremsenden Sandbahnen. In Binz war mächtig was los, wenn auch nicht maximal. Maximal hätte bedeutet: Geschiebe und Gedränge, keine Chance auf Durchkommen, alle Kinder kreischen, alle Erwachsenen stinken – so weit war es noch nicht. Es gab eine für deutsche Verhältnisse ungewöhnlich hohe Kneipendichte auf der Hauptstraße und auf der Strandpromenade. Schöne Bars auch direkt auf dem Strand, wo wir uns spontan eine Thüringer Bratwurst leisteten. Praktisch jedes Geschäft von Café über Klamotten bis Immobilienhai hatte auch Ansichtskarten im Verkauf. Unser Kaufversuch von zwei Ansichtskarten verlief so: Wir suchten die Ansichtskarten auf einem von 5 der typischen Drehständer aus und betraten das direkt dahinter liegende winzige, aber reinrassige Teegeschäft, in dem außer Teegedöns und Teezubehör nichts touristisch relevantes zu entdecken war. Vorsichtig fragten wir also: „Gehören die Ansichtskarten zu Ihnen?“ Die Antwort der verlebten Schnalle mit physiognomisch klar bestimmbarer Ost-Fresse fiel fast schon erwartet pampig aus: „Zu wem denn sonst?“ Wir erwiderten: „Man darf ja wohl noch fragen. Was weiß ich denn, welche Karten zu Ihnen oder zum Nachbarn gehören. Oder ob ein Teegeschäft eventuell zu fein für schnöde Ansichtskarten ist. Oder ob der Nachbarladen auch Ihnen gehört. Oder ob es ein Doppel-Laden ist, wo man von einem zu anderen durchlaufen kann, wie früher zwischen Klingenthal und Schlamann. Malen Sie doch einen weißen Strich auf den Bürgersteig. Dann brauch niemand mehr fragen. Überhaupt! Nageln Sie sich Ihre Karten ans Bein.“ Wir ließen die bereits bezahlten Karten demonstrativ auf dem Tresen liegen und stürmten mit einem frisch entstandenen Magengeschwür aus dem Laden. Nach mehrmaligem Hin und Her auf der Hauptstraße (die wirklich so heißt) fuhren wir auf einer anderen, noch längeren Strecke wieder nach Hause, natürlich inklusive Bergwertung, diesmal knapp unterhalb des Jagdschlosses Granitz. Der Aufstieg war beschwerlich, und der Abstieg eine Gemeinheit: allerspitzestes Kopfsteinpflaster zwang uns bergab zu schieben. Dann pflügten wir kilometerlang durch tiefen Sand, immer entlang der Schienen des rasenden Rolands, der zwar den ganzen Vormittag, wo wir auf dem Balkon saßen, rumgepfiffen und getutet hatte, sich jetzt aber, wo wir seiner angesichtig werden konnten und wollten, in keinster Weise blicken ließ. In Sellin fanden wir einen Tante-Emma-Laden, der uns mit Öl, Essig und Bier für das bescheidene Abendessen daheim versorgte.

Mittwoch, 13. August 2003 (Mauerbau Gedenktag)
Das Tagesziel: Kap Arkona ganz im Norden. Über Binz, Mukran, Sagard mit dem Auto nach Juliusruh. Zwischen Glowe und Juliusruh auf der 9km langen, schmalen Landzunge ging es vergleichsweise zu wie schon so oft in Frankreich erlebt: Heißes Wetter, blauer Himmel, Kiefernwald rechts und links der Straße – der tiefe, tiefe Süden – eine endlose Kette von Autos, die am Straßenrand parken, stammt von Leuten, die sich von hier aus ein kurzes Stück durch den Wald bis zum Strand schlagen. Wir parkten kurz vor Juliusruh und radelten auf einem zweispurigen Betonweg von gemäßigter Rumpeligkeit par la Côte gen Kap Arkona. 3 km vorher gönnten wir uns bei einem improvisierten Bauernhof-Verkauf eine schamlos teure Cola. Vor dem Kap nahmen wir noch der Vollständigkeit halber den Umweg über Vitt in Kauf. Vitt ist ein anerkannt malerisch-pittoreskes Fischerdorf, welches sich schon zu DDR-Zeiten den unerhört non-konformistischen Luxus gönnte, allen Häusern die seit eh und je vorhandene Reet-Bedachung zu lassen. Aus Vitt holen sie in der Saison maximal was raus: Jedes der reetgedeckten Häuser versuchte, am Tourismus teilzuhaben. Es gab überall Fischbrötchen, Crêpes, Bratkatoffeln, Flunder und Scholle, Eis, Kuchen, Bier und vor allem die total unvermeidlichen Sanddorn-Produkte. Wir aber aßen bescheiden unser mitgebrachtes Bubu mit Appi. Das Kap erkundeten wir pflichtgemäß, allerdings auf unsere Weise, das heißt, nicht jede verpflichtende Gelegenheit, Geld auszugeben, wurde wahr genommen. Auf der Positiv-Liste standen: Steilufer-Treppe runter, 200 m Felsenstrand, andere Treppe wieder rauf. 2 Ansichtskarten, 2 Snickers-Eis, Udo auf den Schinkel-Leuchtturm. Zurück in Juliusruh gab es eine kostenneutrale Ruhephase auf einer Bank am Strand, wo wir ein freundliches älteres Ehepaar aus Sachsen kennen lernten, das helle war, das weiß die ganze Welt, und war es  mal nicht helle, so hatte es sich verstellt. Weiter im Programm: mit dem Auto nach Sassnitz, Stadthafen. Es war die Zeit, wo die meisten Urlauber sich in ihre Residenzen zurückziehen, um vor dem abendlichen Ritt auf die Piste noch mal zu verschnaufen oder zu duschen und zu fressen. Es war also nix los. Wir tigerten durch den Hafen und brachen das Foto-Boykott: die ersten Bilder wurden geschossen. Willkommenes Hilight war eine Portion Fish’n Chips, nicht ganz stilecht mit Remulade (gehört sich eigentlich mit Essig). Der Gedanke, in Sassnitz schick Essen zu gehen, wurde aus zwei Gründen verworfen: 1. alle mussten gründlich aufs Klo. 2. Einer war zu schmierlappig in seiner äußeren Erscheinung. 3. Alle hätten aufs Saufen verzichten müssen. Wir entdeckten einen „Intermarché“ und kauften dort etwas für das karge Nachtessen daheim ein. Ohne weiteres touristisches Rahmenprogramm wurde der Plan vollzogen.

Donnerstag, 14. August 2003
Es hatte sich mächtig abgekühlt und aufgefrischt. Einer holte Brötchen von Otto Ehrke. Vormittags lungerten wir an der Seebrücke rum, machten ein paar Fotos und tranken auf der Seebrücke ein Bier und einen Latte für 6,- € zusammen. Mann. Das ist die Ausnahme, sonst sind die Ost-Preise nicht so. Dabei beobachteten wir die zahllosen Dicken und Doofen rundum. Mit dem Fernrohr kuckten wir bis Stubbenkammer, welches schon hinter dem Wölbungspunkt des Meeres lag. Das Rohr ist aber schwer zu halten und wackelt und zittert, so dass man sogar im Sitzen völlig außer Atem kommt. Mittags geruhten wir, ab 15.00 Uhr brachen wir bei frischem Wind auf zur Radtour nach „Ostseebad Thiessow“, von dem wir uns einiges versprochen hatten. Obwohl wir stundenlang an der Rasender-Roland-Strecke entlang radelten, war er wieder nicht zu sehen. Bald glauben wir alle, dass es sich tatsächlich um ein Phantom handelt und das Tuten und Pfeifen nur vom Band kommt. Von Göhren bis Lobbe fährt man auf einer Betonpflasterstraße ohne jegliche touristische Hilights. Lobbe ist ein Prärie-Ort (ein paar Kneipen und Läden ohne Plan in die Steppe gestellt). Dann ging es 5 km durch den Wald, zur Abwechslung auf einem geteerten Radweg, von dem es zu den einzelnen Abschnitten des Strandes ging: 90 % FKK-Gelände, 9 % Hundestrand, 1 % Textilstrand. Das sog. „Ostseebad“ war auf seine Art ebenso schlimm wie Lobbe und touristisch wie auch sonst unterentwickelt. Nach unserer Einschätzung wird das auch nichts mehr. Proforma kuckten wir einmal am Strand. Ein einzelner Surfer nutzte das stürmische Wetter. Hungrig radelten wir am Stück zurück bis Baabe, wo wir ein Stück Kuchen kauften und sofort fraßen. Auch auf dem weiteren Rückweg war Roland wieder zu hören, aber nicht zu sehen. Zu Hause nahmen wir das überraschend wieder betriebsbereite Handy und riefen den Oppa an, der von ungeheuerlichen Telefonterror-Attacken des Museums in Paderborn zu berichten wusste. Wir ermahnten uns gegenseitig, die Ohren steif zu halten.

Freitag, 15. August 2003
Ruhiges Angehenlassen. Brigitte holte Brötchen. Kleine Einkaufstour, um wenigstens einen 5er Inbusschlüssel zu bekommen. Tagsüber schrieben wir aus der Erinnerung eine tabellarische Übersicht aller bisher getätigten Urläube und Reisen mit wenigstens einer Übernachtung. Dieses Werk steht schon seit langem auf der To-Do-Liste. Am späten Nachmittag brachen wir auf zu einem kleinen Spaziergang am Hochufer durch den Buchenwald. Nach 2 km beschlossen wir stumm, weiterzugehen bis Binz. Es dauerte 2¼ Stunden. Wir kehrten ein und fraßen einen Salat. Dann ging es im Galopp zum Rasenden Rolands-Bahnhof, wo wir knapp den letzten Zug nach Sellin erwischten. Wetter: Etwas Regen, etwas Sonne, stürmischer Wind, „kühl“.

Samstag 16. August 2003
Nach dem Packen und Einladen war die letzte Amtshandlung, Jens Kühn die Entschädigung für das Desaster „Sellin“ abzuluchsen. Er zahlte 150,- in bar und der Fall war erledigt. Auf unsere Frage nach dem früheren Zweck des Hauses zu DDR-Zeiten sagte er: Ferienheim für MfS-Angehörige. Da wir erst nachmittags in Lauterbach einziehen konnten, gab es zur Überbrückung ein touristisches Rahmenprogramm. Prora sollte es sein. Irgendwann fanden wir die Zufahrt. Das Gelände war so abweisend und deprimierend, dass wir zwei Anläufe brauchten, um wirklich anzuhalten und reinzugehen. Wir machten Fotos von der tristen, bröckelnden Architektur in der ungepflegten, verwilderten Umgebung. Es gab ein Prora-Museum mit einer Dauer-Dokumentation zur Geschichte und mehrere Sonderausstellungen, die wir nicht buchten. Die heutigen Betreiber hatten den Scharm des Hauses nicht groß verändert und so  tummelte man sich in einer atmosphärischen Mischung aus 50% Naziambiente, 30% DDR-Flair und 20% heutigen Einflüssen. Es wurde erstaunlich voll, weil viele Urlauber bei dem ungemütlichen Wetter vermutlich ebenfalls ihren fest eingeplanten Prora-Tag nahmen. Die Besucher waren fast alle Ossis, wie man an den Nummernschildern der Autos erkennen konnte. Es gab Fotos, viele Text zum Lesen und wenig Originales. Die Museumsbetreiber gaben sich in den aushängenden Texten ziemlich politisch. Es schienen offenbar geläuterte, aber entschieden bekennende Ossis am Werk zu sein. Man merkte das an den Kommentaren und Einschätzungen, im Sinne von: „die Russen waren schlimm, aber die Amis noch schlimmer.“ Sie verteidigen die gesamte Anlage gegen Abriss und gegen kommerzielle Nutzung. Nur den jetzigen Status als Gedenkstätte und vielleicht noch als Jugend-Begegnungsort lassen sie gelten. Außer begrenzten Prora-Themen wurde ein heimatkundlicher Rundumschlag geboten – von den Auswirkungen der Eiszeit über die Anfänge des großbürgerlichen Tourismus und das Eisenbahnnetz auf Rügen bis zu technischen Monster-Ruinen wie Peenemünde und dem AKW Lublin auf dem Festland. Da konnten wir noch was lernen: Fast wären wir bei der Suche nach einem Ferienhaus an der Ostsee in Lublin gelandet – direkt an der Ruine eines stillgelegten, uns bisher völlig verborgen gebliebenen Atomkraftwerks. Brrr.  Nach einer Stunde schweigenden Staunens über so viel geballte furchtbare Vergangenheit verließen wir schaudernd und frierend den ungemütlichen Ort. Auch die Möglichkeiten zur Einkehr überzeugten nicht. Weiter gings nach Bergen. Auf dem Marktplatz war ein Spektakel im Gange, wo sich Hilfsorganisationen mit ohrenbetäubend lautem, hilflosem unständlichen Gestammel, von den Vortragenden sicher als „Moderation“ verstanden wissen wollend, vor nicht vorhandenem Publikum präsentierten. Es war zum Wegrennen und wir drehten eine Runde, bis wir in einem Café am mutmaßichen Marktplatz andockten und bei schlechtem Kaffee und matschigem Kuchen dem Treiben aus der Ferne beiwohnten. Anschließend fuhren wir nach Lauterbach und bezogen das Appartment im „Haus Katharina“. An dieser Stelle hat traditionell das Meckern über die vorgefundenen Mängel zu kommen, und da kommt es: Auf den ersten Blick nett, hell und freundlich. Aber: Siffiges ungeputztes Treppenhaus. Müllberge vor dem Haus. Winziges Schlafzimmer mit Bett direkt an der Wand, d.h. schlechte Fluchtmöglichkeit. Geschirr nicht sauber. Kein Platz in der Puppenküche. Wir gingen Einkaufen, z.B. eine Flasche Wein für das Abendessen, brachten aber später den kümmerlichen Korkenzieher zum Bersten. Zum Glück hatten wir auch noch eine Flasche Bier gekauft, mit der wir uns über das Abendessen retteten. Mit uns zogen weitere ankommende Leute ins Haus, so dass wir beschlossen, nächstes Mal entweder ein Ferienhaus für uns mit Garten zu buchen oder zu Hause zu bleiben. Dermaßen schlecht gelaunt (manche jedenfalls) machten wir uns auf, den Ort zu erkunden. Am Hafen fand ein Ramsch-Markt statt mit Waren wie Sonnenbrillen, Handy-Schalen, Gartenschläuchen. In keinem Rügen-Buch darf das Badehaus Goor aus klassizistischer Zeit fehlen. Nur vergessen alle zu erwähnen, dass es dabei ist, in sich zusammen zu krachen und deshalb mit einem Bauzaun abgesperrt ist, der seinerseits schon wieder von Unkraut überwuchert wird. Man darf nicht ungerecht sein: Lauterbach ist nicht ungemütlich und macht mit seinem Segelhafen, dem See-Panorama, den paar Kneipen, den DDR-Relikten, der Roland-Endstation und den vielen sommerlich wirkenden Eichen-bestandenen Plätzen und Alleen einen sympathischen und einladenden Eindruck. Das Office von „Im Jaich“ (mundartlich für: In der Jauche) am privaten Segelhafen zeigte sich als toller Bau: Auf vier Stahlträgern ruht das Hochgeschoss, welches aus Holz/Glas gebaut ist und über leicht verwinkelte Stahltreppen erreicht wird. Wir kauften genau dort eine Ostseezeitung und legten am Ufer in der Nachmittagssonne ein Lesestündchen ein, bis die Windverhältnisse das Umblättern unmöglich machten. Später gab es zum Bier Nudeln mit Tomatensoße, Thunfisch und Salat. Die Telefonleitung, die wir entdeckt hatten, war tot.

Sonntag, 17. August 2003
Wir blieben am Ort, keine Radtour, keine Autofahrt. Das Wetter war sonnig aber nicht heiß, der Blick klar und das allgemeine Treiben bunt. Wir saßen überwiegend auf unserer Dachterrasse und beobachteten das Volk, insbesondere die zahlreichen Bescheuerten. Leider liegen wir ja wieder nur in zweiter Reihe, so dass das Leben überwiegend an uns vorbei geht. Nach vorne hätten wir ein Abbruch-Gelände mit betoniertem Hof. An den Rändern wachsen Brombeer-Büsche, an welchen wir sogar schon Ernte-Einsätze beobachten konnten, was uns froh stimmte. Denn es bewies, das von dem allgemeinen Trend der „Verstrohdoofisierung“ noch nicht alle erfasst sind. Strohdoof heißt: Nicht zu wissen, was das naheliegendste ist, z.B. dass man reife Brombeeren durchaus ernten und aufessen kann. Wir sahen Gärten von Ferienhäusern, wo sich die Äste der Obstbäume bogen vor Früchten und sich niemand drum kümmerte, sondern alles nur runterfiel. Hier nun ein Beispiel für Strohdoof:

27.7.2003, 1.30 Uhr, Belgien, Autobahnraststätte zwischen Gent und Antwerpen. Zeugen des Vorfalls: Oppa und Udo. Zwei deutsche Teenies, höchstens 12 Jahre, gingen zum „Nachtschalter“, wo hinter Glas vor Überfällen vermeintlich geschützt der einzige Kassierer den eingeschränkten Nacht-Verkaufbetrieb aufrecht hielt. Sie sagten nur ein Wort: „Golluas“, was bedeuten sollte, dass sie Zigaretten der Marke „Gauloises“ erwerben wollten. Der Kassierer verstand und zeigte nacheinander mit fragender Geste auf die drei hinter ihm stehenden Gauloises-Versionen – rote, blaue, gelbe mit Unterschieden, um die es hier jetzt nicht geht. Da sie ja nun strohdoof waren, konnten die Mädchen mit dieser Rückfrage selbstverständlich nichts anfangen, denn die Auswahl zwischen drei Sorten kam unerwartet und überforderte sie, außerdem mochten sie nicht von Personen außer ihresgleichen angesprochen werden. Trotzdem überwanden sie sich zu einer Anwort auf deutsch mit einem Wort: „Zwanzig“, was der belgische Kassierer sogar verstand, aber nicht interpretieren konnte. Wir, die Beobachter, übrigens auch nicht. Die Mädchen kümmerten sich dann erst mal nicht um den Kassierer und um die Schlange der Leute, die hinten ihnen auch noch bezahlen wollten und klärten kirchernd und tuschelnd die Standortfrage, wobei sie sich plötzlich dermaßen engagierten, dass sie sogar vergaßen, nur in Ein-Wort-Sätzen zu sprechen: „Wo sind wir hier überhaupt?“ „Weiß ich doch nicht (Udo: Natürlich nicht. Zu wissen wo man ist, wäre verpönte Angeberei und Beschäftigung mit Unwichtigem). Holland oder so“. Es endete damit, dass der Betreuer der Gruppe einsprang und den Zigaretten-Kauf für die Zwölfjährigen treuhänderisch übernahm, wobei er überflüssigerweise, Bildung vortäuschend, aber auf seine Art ebenfalls strohdoof, als Amtsprache französisch wählte, weil er annahm, dass man in Belgien französisch spricht. Das war der vordergründige Zweck. In Wahrheit wollte er damit den unötigen und vergeblichen Versuch machen, seine Teenies zu beeindrucken.

Zurück zum Haus in Lauterbach. Jenseits des Abbruchgeländes steht ein zur Dorfstraße gewandt ein leeres, verfallendes 5-stöckiges Speichergebäude aus rotem Ziegestein mit langezogenem Anbau in Fachwerk-Ziegelfüllung-Bauweise. Die Straßenfront wird gelegentlich für Werbeplakatierung genutzt. Verschiedene kommerzielle Nutzungsansätze in häufig wechselnder Folge waren offensichtlich alle wieder gescheitert. Hier fehlt der große Investor, der richtig was draus macht. Wir überlegen noch, ob wir zugreifen. Als Hauptnutzung käme ein Hotel mit Restaurant in Frage. Oben die Zimmer und Appartments, unten mit viel Stahl und Glaseinsatz das Restaurant. Dazu ein „Store“ mit Segel- und Fahrradzubehör, Literatur, Wein, Delikatessen und Hafenbar. Wir haben beim Edeka-Markt in Lauterbach gesehen, dass „der Investor“ auf dem Edeka-Gelände auch verschiedene Ladenbetreiber versammeln wollte. Hat aber nicht geklappt – Leerstand, weil es zu unattraktiv und spießig gemacht war. Das passiert uns mit unserem Speicher natürlich nicht. Bei den Appartments achten wir auf genug Größe und Komfort. Es gibt 1- 2- und 3-Raum Varianten, Balkone mit Teil-Verglasungen an den Seitenfronten. Am späten Nachmittag gab es eine kleine kurze Radtour „par la côte“ Neuendorf, Weechen, Putbus, Lauterbach. Weechen erinnerte etwas an die Austerngegegenden am Atlantik. In Putbus kümmerten wir uns nicht um die historisch-kulturellen Attraktionen, sondern bewunderten vor allem eine architektonisch außergewöhnlich gestylte Tankstelle mit viel Glas, Stahl und asymetrischen eleganten Bogendächern am Bahnhof und den harmonisch ins Stadtbild eingepassten Plus-Markt im Altbau. Die Bahnhofsgaststätte war nicht isoliert, sondern hatte seine Fläche konsequent auf dem Bahnsteig gleisseitig ausgerichtet. Auf dem Putbusser Bahnhof wohnt anscheinend der Rasende Roland. Wir zählten 5 Dampfloks, wovon eine grade aktiv mit Kohle beladen wurde. Vor Heimkehr drehten wir noch eine Runde durch den Hafen. Es war ein Piratenschiff angekommen und ein schweizerisches Fluss-Kreuzfahrtschiff namens Swiss Coral Transatlantic Tours. „Privat-Schiff, bitte nicht betreten). Wie ist es dort von Zürich aus hingekommen? Wurden die Passagiere von Lauterbach mit dem Bus nach Binz oder Sellin gekarrt? Wohin ging die weitere Reise? Eine berechtigte Frage, denn am nächsten Morgen war das Schiff weg.

Dienstag, 19. August 2003
Es regnete morgens. Bauern, Gärtner und Talsperren-Besitzer atmeten durch. Wir kauften beim dicken Bäcker (diesmal eine dicke Bäckerin) Brötchen und die Ostseezeitung und verfestigten unseren Eindruck von gestern: Es gibt hier überproportional viele Muffköppe. Grüßen beim Kommen und Gehen sind sowohl bei Kunden als auch beim Personal unbekannt, unser gutes Beispiel findet keine Nachahmung. Sicher eine direkte oder indirekte Folge der Verwestlichung. Direkt: „Ihr Wessis seid an allem Schuld. Darum grüßen wir euch nicht.“ Indirekt: „Vor der Wende waren wir, das werktätige Volk der lieben schönen kleinen DDR eine herzliche, solidarische und von gegenseitiger Hilfe bestimmte Gemeinschaft, wo jeder jeden kannte und alle sich freuten, dass es so war. Dann kam der böse Westen und brachte uns die Hartherzigkeit, die Gier und Rücksichtslosigkeit des Kapitalismus. Wer unter solchen Umständen noch grüßt, gibt mehr, als er bekommt, ja, er verliert sein Gesicht. Darum wollen und können wir nicht grüßen“. Nach dem Frühstück erwischten wir beim Rumschleichen im Hafen- und Jaichgebiet die Postbotin, und nahmen ihr direkt die Neue Westfälische ab. Sie schien erleichtert, wenigstens ein Verständnisproblem gelöst zu haben. Schluchzend gab sie zu, tagelang den Empfänger der Zeitung gesucht zu haben. Schließlich habe sie sich schweren Herzens immer wieder entschieden, die Zeitung zurück an den Absender zu schicken. Was mag man wohl bei der NW in Bielefeld gedacht haben? Wir kauften bei der Räucher-Berta zwei Lachsbrötchen, die nicht besonders schmeckten und lungerten weiter rum, bis wir vor Müdigkeit daheim in einen tiefen Mittagschlaf fielen. Vorher brachten wir noch die Spinnen vor der Wand um. Das Schlafen überhaupt und der Mittagsschlaf im Besonderen bringen einen stets völlig von der Rolle. Vollgepumpt mit viel Kaffee begaben uns auf eine kombinierte Auto/Radtour: Von Gambin nach Altefähr und zurück. Hinter Gambin ging es auf gemäßigten – man ist anspruchslos geworden – Plattenwegen Richtung Bessin (wie Port-en-Bessin). Nach ein paar Abbiegungen und Kartenfehlinterpretationen merkten wir, dass wir 5 km im Kreis gefahren waren. Also noch eine Runde, vorbei an den drei Frauen mit den schicken geblümten Kittelschürzen. Aus einem Gebüsch sprang eine Ziege und kuckte hinter uns her. 3 km vor Altefähr verengte sich der Weg zu einem Pfad und verlief par-la-côte. In Altefähr steuerten wir sofort die Bretterbude an, wo wir im März 2002 die einzigen Gäste waren und uns eine halbe Tasse Kaffee geteilt hatten. Der Patron erinnerte sich nicht mehr an uns. Wir bestellten Fischgerichte, fraßen diese mit wechselnden, sich dazu setzenden Tischgenossen in der Abendsonne und stellten Betrachtungen des Treibens im Segelhafen, der Surfschule und der gegenlichtigen Silhouette Stralsunds auf der anderen Seite des Strelasunds an. Brigitte glaubte nicht mehr an eine Rückkehr zum Auto in Gambin vor Einbruch der Nacht, aber was blieb uns übrig? Wir radelten auf etwas abgekürzten, noch schlechteren Wegen zurück und kamen zum dritten mal an der Stelle her, wo wir uns verfahren hatten. Die Kittelschürzen schüttelten den Kopf. Jetzt noch schnell zu der Fähre in Glewitz. Dort wollten wir den Blick aufs Festland prüfen und das gastronomische Angebot dort abschätzen. Wir stellten uns wie bei jedem Blick aufs andere Ufer zahllose Restaurants, Hotels, Spielcasinos und das pralle Leben vor. Diesseits hatten sie ein Pommesbude und eine Räucherfischbude. Beide waren geschlossen.

Mittwoch, 20. August 2003
Bei heiterem Wetter klüngelten wir erst am Hafen und im Jaich rum, fraßen zu Mittag und fuhren dann los, um den schon seit Monaten feststehenden Stralsund-Tag einzulegen. Wider erwarten war den ganzen Nachmittag strahlend blauer Himmel bei guter Sicht, also eines von drei optimalen Fotowettern: Dieses, Gewitterlicht und Regen. Zu den schlechten Fotowettern gehören Betonhimmel und Diesigkeit. Wir parkten etwas außerhalb zwischen Hafen und Bahngelände, um etwaige Parkgebühren zu sparen neben ein paar Loks der Westfälischen Almetalbahn aus Altenbeken, ein Unternehmen eines ausgemachten Verbrechers. Der alte Stadthafen war noch aufgeräumter als Ostern 2002. Auch in der Stadt schien es wieder aufwärts zu gehen: Weniger Leerstand, mehr Läden, Kneipen, Cafés, Büros, weniger Abbruchreifes. Auf dem Markt vor der gotischen Rathausfassade fraßen wir ein Eis / ein Stück Kuchen. Wir besichtigten St. Nikolai. In jeder Hansestadt gibt es drei Kirchen: St. Nikolai, St. Marien, St. XYZ. Während die ersten beiden unabdingbar festgelegt sind, ist St. XYZ variabel und kann nach Bedarf von St. Petri, Jakobi oder Georgi belegt werden. Zweite Station: St. Marien zur Turmbesteigung. Sie hatten Sinn fürs Geschäft und deshalb verlängerte Öffnungszeit bis 18 Uhr. Für je 2 € ließen sie uns rauf. An der Kasse saß auch kein frommes Mütterlein wie schon oft beobachtet, sondern coole Typen. Im Turm gab es enge Wendeltreppen und abenteuerlich steile Holzstiegen, jedoch professionell getrennt für Auf- und Abstieg. Langer Rundumblick, zum Ausklang Bummel durch die Kirche inklusive Chorumgang. Die hanseatischen Kathedralen im Osten haben noch etwas vom morbiden Charme französischer Kirchen. Viel Vergammeltes, Improvisiertes, Altes, mehr oder weniger hilflose oder gelungene Versuche, moderne Kunst zu integrieren oder soziale Projekte zu dokumentieren. Es bleiben zum Glück die großen Restaurierungserfolge der letzten Jahre unübersehbar. Wir haben in diesem Urlaub 5 große alte Kirchen gesehen, jede war anders (Siehe auch Donnerstag, 21.8.2003). In St. Nikolai/Stralsund beeindruckten die Größe, die Farbigkeit, die reichhaltige und teilweise kuriose Ausstattung. St. Marien/Stralsund war von „Atem beraubender/Schwindel erregender“ Höhe und „Licht durchflutet“ von „unendlich hohen“ Fenstern. So. Am Hafen bekamen wir die Ankunft des Dampfers aus Hiddensee mit, Leute stiegen mit Koffern und Säcken von Bord und wurden mit dramatischen Begrüßungszeremonien abgeholt. Langsam wurden wir hungrig und malten uns eine schlichte Bratwurst von der Bude aus, aber alle Buden hatten nur Räucherfisch oder waren keine Buden, sondern pompöse Restaurants, wie z.B. das Fisherman’s oder das Kuddel-Daddel-Du mit gesalzenen Preisen und exotischen Gerichten: Die Lachs-Fritette (hieß so) war das einzige Gericht unter 10 €. Fast wären wir dort hängen geblieben, nämlich wegen eines rotbraunen Bieres in soliden Pokal-Gläsern mit rotem Aufdruck, das von weitem täuschend wie De Koninck Bolleke aussah. An dieser Stelle müssen wir aus assoziativen Gründen zu einem absoluten Hilight des Jahres 2003 ausholen:

Mitte Juli spielte in Gent/Belgien im Städtischen Konzertsaal … auf einer von zwei europäischen Tournee-Stationen Marcus Miller, den wir schon seit Ende der 80er Jahre, als er noch bei Miles Davis spielte und die LP Tutu mitproduzierte, heiß verehren, insbesondere seit den Interludes auf der CD M². Und seit Jahren halten wir auch auf seiner Web Site Ausschau nach Tournee-Abstechern in D/NL/B/CH. B lag also noch gerade im Grenzradius der Reisebereitschaft. Da wir so weite Strecken aber nicht alleine fahren mochten (nicht aus Gründen mangelnder „Kondition“, sondern weil ohne Begleitung zu schnell Reisedepressionen aufkommen. Wem tut man sowas an? Dem Oppa. Er hat noch jeden, der ihn gefragt hat, nächtens zu irgendwelchen Flughäfen gekarrt, und sei es nur, um am Vorabend vor Abflug das Butterbrot für unterwegs einzuchecken. Er sagte nicht nein. In Antwerpen gab es ein im Prinzip hier nicht zur Sache gehörendes, aber der Vollständigkeit halber zu Besten zu gebendes kleines Intermezzo mit aus mythologischen Gründen erforderlichen, aber in Realitas ungenießbaren Fritten; und die 5 Stunden Aufenthalt in Gent bestanden zum großen Teil aus völlig verfahrenem Rumjuckeln bzw. nach unverhofftem Erreichen des Ziel-Areals (der Städtische Konzertsaal entpuppte sich als Schützenfestzelt, welches auf einem still gelegten Krankenhausgelände aufgebaut war) aus völlig orientierungslosem Rumstolpern in unbekannten Stadtvierteln auf der fast vergeblichen Suche nach einem – und hier schließt sich der Kreis – De Koninck Bolleke. Wir kamen an einer guten Kneipe vorbei, hielten diese aber für eine VIPs vorbehaltene reinrassige Fresskneipe. Wir litten akut unter einem VIP-Trauma, da wir kurz zuvor von mehren VIP-Parkplätzen wieder runtergeflogen waren. Zwischendurch schickten wir in perfektem Niederlandisch (het algemeen beschaaft Nederlands) ebenfalls orientierungslose Holländer, die ausgerechnet uns nach dem Weg zum Marcus-Miller-Konzert fragten, besten Gewissens in die falsche Richtung. Als Durst und Leidensdruck groß genug waren, und wir auch noch hilflos treibend in der Runde gelaufen waren, kamen wir wiederum an dem VIP-Restaurant vorbei. Mit aus der Not gewachsenem „Mumm in den Knochen“ fassten wir ein solchermaßen „vermummtes“ Herz, enterten und verlangten mit großer Entschiedenheit ausschließlich ein Bier, gleich welcher Marke und ungeachtet bestehenden Fresszwangs. Drinnen umgab uns zunächst ein unübersichtlicher Warte- und Rangierbereich, wo noch mehr zu kurz Gekommene und kaputtes Volk rumhing. Wir waren in bester Gesellschaft. Bier bestellt. Kein Problem. Das Bier hieß De Koninck, und es blieb dann nicht bei einem. Zu jedem Glas stellte man uns unaufgefordert ein neues Schälchen Erdnüsse hin. Dabei waren wir nur Deutsche – wahnsinnig vor Glück. So sehen Sternstunden aus. Die Frage war: sofort nach Hause, im Auto übernachten und am nächsten Morgen eine Wohnung mieten oder doch noch das Marcus-Miller-Konzert mitnehmen? Um es kurz zu machen: Das Konzert war so mittelmäßig, dass wir beschlossen, vorläufig überhaupt keine Live-Acts mehr zu besuchen, egal, wer spielt. Noch vor der Zugabe (Tutu) verließen wir das Gelände und kamen abermals ins Schleudern, diesmal bei der Suche nach der Autobahn heimwärts Richtung Antwerpen. Nebeneffekt: wir konnten unsere aus den 80er Jahren verfestigte Meinung (als wir mal mit Steinhövels den berühmten Van-Eyck-Klappaltar in der Kathedrale usw., stop, wir schweifen ab) über die urbane Qualität Gents noch in der gleichen Nacht revidieren und stuften Gent zum „Etappenziel“ auf, was schon was heißt. Kurze Zeit später ereignete sich die Episode mit den Zigaretten-kaufenden Mädchen (siehe Eintrag unter Sonntag, 17.8.2003). Wir konnten die Augen kaum noch offen halten, machten aber noch eine spontane nächtliche Rundfahrt um Antwerpen, um die neuen Tunnels unter der Schelde und unter dem Hafen kennen zu lernen (4 € und 50 km extra!), hielten uns fest an der kitschig-romantischen Vorstellung „der Sonne entgegen“ zu fahren (Udo Lindenberg, 1979, „Hey Baby…“), und tatsächlich – hinter Dortmund wurde es hell und in Paderborn erlebten wir, wie zu so früher Uhrzeit noch niemand Brötchen holte. Das war unsere erste durchgemachte Nacht sein Jahrzehnten, und das alles wegen zwei Bollekes „De Koninck“. Die Folgen waren drei Tage Jet Lag.

Zurück nach Stralsund. Das Kuddel-Daddel-Du hatte nur eine Grundlage für seine Preisklasse: Nicht die Erlesenheit seiner Speisen, nicht die Lage an der Hafen-Vergnügungsmeile, sondern schlicht seinen Namen. Ihr Kalkül: Magisch angezogen fühlen sich „gut“-verdienende, aber inzwischen ihren Überzeugungen abgeschworene Altlinke, die sich selbst damit schmeicheln, zu wissen, das K. eine literarische Figur des Dichters Joachim Ringelnatz ist, mit der sie sich eigentlich spontan identifizieren könnten, in dem sie dort zum Essen einkehren. Soviel intellektuelles Vermögen lässt man sich gern was kosten. Wir durchschauten diese perfide Strategie, verzichteten auf ein ohnehin nur als Fata Morgana wahr genommenes De Koninck und schlichen traurig, aber hungrig weiter. Wenige Meter später erblickten wir eine Imbissbude mit Sitzlegelegenheit und sogar draußen und sogar am Wasser an eben der selben Amüsiermeile. Laut Schild hatten sie die bei uns für heute eingeplante Bratwurst im Angebot. Wir bestellten, wurden freundlich behandelt, zu Wurst und Pommes gab es als amuse-geule eine Salatbeilage und das Bier war ein Rostocker Dunkel – jene De Koninck-Attrappe, die uns fast in die Arme von Kuddel-Daddel-Du getrieben hätte. Dort zum doppelten Preis. Ein schöner Tag ging schön zu Ende. Daheim in Lauterbach hatte wiederum ein Fluss-Kreuzfahrer angelegt, auch unter Schweizer Flagge – die Saxonia. Hört sich nach Elbe-Kreuzfahrt an, welche wegen Niedrigwasser auf die Ostsee verlegt wurde.

Donnerstag, 21. August 2003
Bei nicht unfrischem Wetter stand für heute die Greifwald-Fahrt an, womit wir die Hansestädte komplett haben würden – von zweifelhaften, selbst ernannten Hansestädten wir Anklam, Wolgast etc. mal abgesen. Nach ausgiebigem Frühstück mit intensiver Lektüre der Ostsee-Zeitung brachen wir auf, genossen die Fahrt durch die 8 km lange, erstklassige Allee zwischen Kasnevitz und Garz, nahmen bei Glewitz für 4,90 € die Fähre nach Stahlbrode und freuten uns, alsbald in Greifswald angekommen, über einen unfreiwillig kostenlosen Parkplatz am Rande der Altstadt, denn die Schranke klemmte oder der Ticket-Automat spielte verrückt. Andere Autofahrer, die das nicht gleich erkannten, drückten sich einen Wolf auf der Ticket-Taste, während wir cool daneben standen und hähmisch-dreckig lachten. Oder so. Erste touristische Station: St. Marien, eine kompakt gedrungene Kirche mit roten Säulen bzw. Pfeilern und fast quadratischem Grundriss: 33 x 40 m. Diesmal erlangten wir sofort die hierzulande übliche Fotografiererlaubnis – ein kaschiertes Eintrittsgeld – für 1 €, das man aber „gern“ zahlt. Ist ja für die armen Brüder und Schwestern im Glauben, auch wenn es nur Protestanten sind. Wir stellten der Aufsicht führenden Omma zum Schein eine interessierte Fachfrage, um aus der Antwort herauszuhören, ob sie sächsisch, berlinerisch oder mecklenburg-vorpommerisch platt sprach. Man konnte es nicht raushören. Greifswald City machte einen einigermaßen intakten Eindruck, auffallen viele jüngere Leute, was an der Uni liegen mag. Das meiste schön restauriert, genug Neues, Historisches, Kneipen und Läden. In einem freundlich-großzügig designten, obendrein preiswerten und guten Café neben dem Rathaus rasteten wir und lauschten nebenbei den Gesprächen der Einheimischen am Nachbartisch. Ein offensichtlich sittlich-moralisch-mental gefestigter Gast berichtete von einem gemeinsamen Bekannten, welcher in Folge Job-Verlustes – er sei Hausmeister bei einem Jugendzentrum gewesen, hieß es – in Ermangelung auch jener psychischen Stabilität, die der Erzähler besaß – so folgerten wir – sich zum zweiten Mal die Pulsadern aufgeschnitten hatte und nun im Spital wieder auf die Beine gebracht werden sollte. Konnte ein Selbstmord-Versuch sein. Auch wurde eine Krebs-Erkrankung erwähnt, und wir wussten nicht, ob es jetzt Zeit wurde, wegzuhören oder ob immer noch vom gleichen Pechvogel die Rede war. Der Dom St. Nikolai rief. Wir erkauften die Fotografier-Erlaubnis – noch teuer, 1,50, den Eintritt für die Turm-Besteigung und eine Ansichtskarte. Ost-Kirchen sind eine teure Angelegenheit, man muss schon viel Wohlwollen mitbringen. Der Anstieg hatte es in sich. Extrem enge Wendeltreppe, anschließend sehr steile lange Holzstiegen und mehrere Durchstieg-Luken, wo kaum ein Hund durch passte. Oben machten wir ein paar Fotos, und nach einer Weile reichte es dann. Auf dem Abstieg ließen wir zugegebenermaßen „einen fahren“, der dem nächsten aufsteigenden Besucher direkt ins Gesicht geschlagen sein musste. Nun, Spaß muss sein. Vielleicht stimmt das ja auch gar nicht. Was wäre Greifswald ohne Caspar David Friedrich? Also quälten wir uns noch durch die Gemäldegalerie des Pommerschen Landesmuseums. Überraschung! Keine altersschwache DDR-Altlast, sondern ein Pickobello-saniertes Museum von hohem Geschmack, auf dem neuesten Stand von Technik und Design und mit einer ansehnlichen Sammlung. Nur beim neuen Anbau aus Stahl, Glas und Altbau-Integration hatten sie architektonisch etwas übertrieben – war aber zu verzeihen. Wir gerieten mit unserer Kurzsichtigkeit mehrere Male in die Fänge der Alarmanlage. Zum Schluss ließen wir uns noch den Namen des Museumsdirektors nennen und waren etwas enttäuscht, nicht jenen famosen Stefan Fassbender genannt zu bekommen, der einst von Paderborn nach Greifswald ging um dieses unschlagbare Angebot, diese Riesen-Chance wahr zu nehmen, sondern irgendeinen Dr. Schröder. Als wir wieder auf dem Parkplatz beim Auto ankamen, wurde uns heiß und kalt, blass und rot: Die Schranke war zu, unser Auto gefangen, jegliche Trickserei zwecklos. Wir baten eine Autofahrerin vor der Kasse, rückwärts von außen vor die Schranke zu fahren, damit wir im gleichen Moment dank Schwerkraft in die Lage versetzt worden wären, per Knopfdruck ein neues Ticket zu ziehen, welches wir dann wiederum bei sofortiger Ausfahrt zum Schnäppchen-Preis bezahlt hätten. Aber die Autofahrerin wähnte in uns die gerissenen Trickbetrüger und empfahl, per rotem Notdruckknopf die Aufsicht zu rufen. So taten wir, schilderten kurz die Lage und siehe da – die Schranke öffnete sich, wir konnten umsonst das Gelände verlassen. Letzte Station: Wiek, der touristische Endpunkt Greifswalds an der Mündung des Stryck, nahe der Caspar-David-Friedrich-Klosterruine Eldena. Wiek war in den 90er Jahren Rentnergerecht ausgebaut worden. Dazu das graue Beton-Wetter, so dass sich augenblicklich schlechte Laune, Gereiztheit, Kopfschmerzen und Stuhldrang einstellten. Wir fraßen lustlos ein Stück Donauwelle, tranken ein Störtebeker (Claim: „Das Bier der Gerechten“) und machten uns auf den Heimweg. Die Kassiererin an der Fähre wünschte uns einen schönen Urlaub auf Rügen. Wir antworteten: „Hören Sie mal zu, junge Frau (sie war in Wirklichkeit nicht mehr jung, sondern am Vertrocknen, aber als höfliche Menschen sagten wir halt „junge Frau“) Was wir hier in Rügen machen, geht Sie gar nichts an. Außerdem verschwinden wir morgen wieder und kommen nie wieder!“, obwohl man ja nie „nie“ sagen soll. In Lauterbach am Hafen hatten schon wieder neue Schiffe angelegt. Wir kennen keinen Hafen, der so klein und unbedeutend ist und wo ständig so viele verschiedene Schiffe anlegen. Diesmal zwei große zweimastige alte Segelschiffe mit gemischter Besatzung (Behinderte und Normale) und ein 70 m langer blauer Frachter ohne erkennbares Herkunftsland. Er hatte hier offensichtlich Getreide geladen, wir den besonderen Umständen entnehmen konnten. Wir holten die Kamera, aber zwei Dinge verhinderten ein Foto: Beim Abstützen auf einem Baumstamm-Poller erschrak uns eine dort sitzende fette Spinne und zweitens war der Film voll. Wir hatten auf Negativ-Filme für Papierabzüge gesetzt. Der tatsächlich letzte „analoge“ Urlaub. Warum: Unsere derzeitige Digi-Kamera war eine Olymus E10, die absolute Gurke. Nach 50 Fotos Battery low, und die 64MB Speichkarte randvoll mit 4Megapixel-Bildern schlechter Qualität. Blieb noch das große, schicke, abschließende Essen-gehen: Fischplatte im Hafenhotel Viktoria. 32,- €.

Karte an Frau Dr. Christine Rulow.

Guten Tag, Frau Dr. Rulow
Sie wussten wahrscheinlich schon – MV liegt voll im Trend. Sie waren in Greifswald, Frau Dr. Hauser war in Rügen, und auch wir, die Praxis Dr. Kalle hat den Sommer an der See verbracht und täglich Tagebuchaufzeichnungen vorgenommen, unterstützt durch umfangreiche photographische Dokumentationen.
Wie wir den muffeligen Ossis das Grüßen beibringen wollten, wie es uns andererseits immer schwerer fiel, mit unserer umgehängten Kamera mit dem breiten gelben Nikon-Riemen glaubhaft zu vermitteln, dass wir keine Touristen, sondern das Team von „National Geographic“ seien und weitere Geschichten von Glück und Pech lesen Sie im ausführlichen Tagebuch „Auf Rügen unter Ossis, 8 Seiten A4, schöner 2,5 cm weißer Rand, PDF-Format. Sie können, liebe Frau Dr. Rulow, das Werk beziehen durch Ankreuzen und Abschicken per eMail an k@t-online.de

Freitag, 22. August 2003 (Mutters Geburtstag)
Der wie immer schwere, letzte volle Tag. Bei gutem Wetter mussten zunächst noch fehlende Fotos am Hafen geschossen werden. Täglich treffen andere Schiffe ein. Keine Jachten, sondern alte Segler. Heute kam ein relativ Großer mit nur drei Mann Besatzung, wovon einer auf dem Kai einen Grill aufbaute und Unmengen Fleisch und Würstchen drauf legte. Als Tagesziel war der sog. Putbus-Tag eingeplant, mit dem Rad. Wir schauten uns den Ort zwischen „Circus“, Park und Markt an und waren bis auf die vor jedem Haus angebauten Rosen relativ enttäuscht. Putbus hat zwar die schöne Stadtanlage mit Allee und Park, aber so gar kein städtisches Flair, keine Geschäfte, kein Leben. Um 14.00 Uhr traten wir die Heimreise an. Auf der Schnellstraße ging es kilometerweit um Stralsund rum, aber die Straße war noch nicht fertig und die Umleitungen führten letztendlich wieder nach Stralsund rein, so dass nichts gewonnen war. Total bescheuert. Im Schneckentempo mit vielen Staus auf der B105 über Ribnitz-Damgarten und Rostock ging es nach Wismar, wo das letzte größere touristische Rahmenprogramm abgehalten wurde: Besuch von St. Nikolai, wo es mit aufrüttelnden Friedensapell-Ausstellungen in aufdringlicher Weise ziemlich Überhand nahm. Quer durch die Innenstadt erreichten wir ohne Einkehr die Dauerbaustelle St. Georgen, wo wir uns vom Fortschritt der Restaurierung unterrichteten. Am Hafen war ein schlecht besuchtes Rockfestival mit einer lausigen Band. Etwas abseits kauften wir bei der übelsten Fischbude, die wir finden konnten, einen letzten Brathering. Kurz vorm Verlassen der Stadt lag noch ein überraschendes Eis gegenüber dem Hotel New Orleans drin. Die weitere Rückfahrt dauert ebenfalls noch sehr sehr lange, weil es überall voll war. Um 23.30 waren wir wieder zu Hause, wo es sofort mit Arbeiten für die Eisenhoit-Ausstellung weiter ging.